| Mentale Stärke

Konzentriert auf den Punkt: Von einem Handtuch, Automatismen und klaren Ansagen

Im Jetzt zu sein. Mit allen Sinnen. Mit aller Kraft. Konzentration ist keine leichte Aufgabe – das wissen auch Spitzensportler wie Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler. Wie es gelingen kann, in wichtigen Wettkämpfen ganz bei sich zu sein, und wie sich Konzentration trainieren lässt – das erzählen Thomas Röhler und DLV-Psychologin Tanja Damaske im Gespräch mit leichtathletik.de.
Alexandra Dersch

Bevor Thomas Röhler 2016 in Rio de Janeiro (Brasilien) im olympischen Finale seinen Speer weiter als alle anderen Athleten warf, versteckte er den Kopf unter seinem Handtuch. Was er damals in Rio unter diesem Handtuch gefunden hat? Ruhe, Abschottung, Klarheit. „Das mache ich eigentlich in fast allen wichtigen Wettkämpfen“, sagt der 28-Jährige vom LC Jena. „Wenn ich diese Klarheit in meinem Kopf hergestellt habe, dann bin ich bereit für Anpassungen. Wenn ich mir aber vorher zu viele Gedanken mache, dann bin ich nicht reaktionsfähig.“

Was Thomas Röhler beschreibt, ist genau das, was Tanja Damaske als DLV-Psychologin unter Konzentration versteht. „Konzentration ist eine höhere Form der Aufmerksamkeit. Ein Zustand, in dem ich mich bewusst und vorsätzlich mit einer Sache beschäftige.“ Im Wettkampf sei dies eben genau das, was Topathlet Thomas Röhler betreibt: ganz bewusst bei der Sache sein. „Erst wenn ich diesen Zustand erreicht habe, kann ich mich auf meinen nächsten Wurf konzentrieren.“

Diesen Zustand zu erreichen, dafür gibt es verschiedene Wege. Denn einen allgemeingültigen Trick, den gibt es nicht. „Ich glaube, die Verlinkung Körper und Geist, das ist etwas sehr individuelles“, sagt auch Thomas Röhler. Während ihm das Handtuch hilft, meditiert etwa Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo (LG Kurpfalz), andere Athleten reden bewusst mit sich selber, andere nutzen Atemtechniken. „Hier hat jeder Athlet seinen eigenen Weg“, sagt Tanja Damaske. „Oft hilft es, wenn ich mir als Athlet innerlich oder auch eben verbalisiert vorspreche, was ich gerade mache. Wie ich meine Atmung spüre. Wo eine Übung meinen Muskel beansprucht. Dann fokussiere ich meine Gedanken, lenke sie auf diesen Moment. Und finde so in die Konzentration, die ich brauche.“

Ein Detail im Fokus

Der menschliche Geist sei so gestrickt, dass es ihm, entgegen oft anders lautender Annahmen, schwer falle, mehrere Sachen gleichzeitig in Gänze auszuführen. Das hat auch Thomas Röhler bei sich beobachtet. „Früher hatte ich den Anspruch, die vom Trainer gestellte Aufgabe von A bis Z zu hundert Prozent zu erfüllen.“ Eine Erwartung, an der er in der Umsetzung oft scheiterte. „Als Konsequenz haben mein Trainer und ich beschlossen, dass wir Trainingswochen unter ein bestimmtes Motto stellen, in denen immer eine bestimmte Sache im Fokus steht. Als Beispiel: die Stellung der Hüfte. Und dieser Fokus wird von der ganzen Trainingsgruppe umgesetzt. So habe ich als Athlet für mich im Hinterkopf, dass ich diese Woche speziell auf die Hüfte achten will. Und meine Trainingskollegen kontrollieren das von außen mit. Das hilft uns allen ungemein, auch hinsichtlich der Konzentration.“

Denn dass die Gedanken doch einmal abschweifen, nicht im Moment sind, sondern um ganz andere Dinge kreisen, das kennt auch Thomas Röhler, gerade aus seinen noch jüngeren Jahren als Athlet. Doch er weiß: „Spitzenleistung kann ich nur erbringen, wenn ich voll da bin.“ Und das sei im Training mindestens genauso wichtig wie im Wettkampf. Denn: „Was ich nicht im Training geübt habe, das kann ich auch im Wettkampf nicht abrufen.“ Eine Regel, die auch auf die Konzentration zutrifft.

Training mit Augenbinde

Genau aus diesem Grund gehören Konzentrationsübungen zum Trainingsalltag von Thomas Röhler und seiner Trainingsgruppe um Trainer Harro Schwuchow, der für seine Kreativität bekannt ist. Turnübungen, Slackline-Einheiten oder auch Übungen mit eingeschränkter Sicht, etwa mit Augenbinde – all das fordert und fördert den Athleten körperlich, aber schult eben auch die Konzentrationsfähigkeit der Athleten.

„Es sind allesamt Übungen, die uns mit einer bislang unbekannten Herausforderung konfrontieren, die wir nur im Einklang von Körper und Geist lösen können“, sagt Thomas Röhler. Es sei daher auch kein Zufall, dass sie im Winter wichtige Technikeinheiten bewusst an Tagen abhalten, wo besonders viele Kinder in der Halle sind. „Das Gewusel, der Trubel, die Lautstärke – das ist eine zusätzliche Herausforderung“, sagt der Speerwerfer. Doch die einleuchtende Idee dahinter: „Wenn wir im Training unter nicht idealen Bedingungen Leistung abrufen können, dann können wir es im Wettkampf auch.“

Und auch im Wettkampf nutzt Thomas Röhler kleine Anker, die ihm im Zweifelsfall den Weg zurück zur Konzentration weisen. Den schon so oft zitierten Punkt im Stadion, den sich der Speerwerfer vor jedem wichtigen Wettkampf sucht und den er bei jedem Wurf fokussiert, auch der sei so ein mentales Hilfsmittel. „Es reicht oft dieser kleine gedankliche Impuls, dieses ‚ich sehe da was‘ – und schon setzt sich ein automatisierter Kreislauf in Gang, an dem Hüfte, Speerachse und so weiter hängen. In diesen Automatismus zu kommen, das ist es, was ich brauche, um weit werfen zu können.“

Professionelle Coachingsprache

Hinzu kommt die Ansprache zwischen Trainer und Athlet während des Wettkampfs als weiteres Tool für das Gespann Röhler-Schwuchow, das sie hinsichtlich der Konzentrationsfindung optimiert haben. „Zeichen, knappe Ansprache, keine Diskussionen“, fasst es Thomas Röhler zusammen. Denn so lapidare Sätze wie „jetzt konzentrier dich aber mal“, wie sie wohl schon jeder mal, sei es in der Schule, im Training oder gar im Wettkampf, gehört hat, die bringen nicht den gewünschten Effekt.

„Konzentration ist nicht nur eine Entscheidung des Willens“, sagt Tanja Damaske. Der Satz „jetzt konzentrier dich aber mal“ sei daher viel zu unspezifisch. Gerade junge Athleten aber auch Top-Athleten unter Stress könnten damit nichts anfangen. „Der Kopf braucht gerade in herausfordernden Momenten etwas Greifbares, Bekanntes.“ Ihr Tipp an die Trainer, um die Athleten einzufangen und ihnen zu helfen, ihren Fokus zu finden, sind daher konkrete Anweisungen. „Der Athlet braucht dann eine Anweisung, die er schon aus dem Training kennt. Etwa wie ‚Schlage deine Hüfte nach vorn‘. Dinge, die den Kopf zurück ins Jetzt holen und im besten Fall einen Automatismus im Körper auslösen, den es braucht, um Top-Leistungen abzurufen.“ Genau deshalb sei gerade bei großen Wettkämpfen der Trainer auf der Tribüne so wichtig. „Er ist die beruhigende und lenkende Instanz, wenn der Athlet im Innenraum aufgrund von unvorhersehbaren Ereignissen doch einmal den Kopf verliert.“

Denn ein Spitzensportler ist eben auch nur ein Mensch. Zwar ein Mensch mit überragenden körperlichen Fähigkeiten. Mit einer gesunden Portion Vertrauen in sein Können. Aber eben auch ein Mensch, der sich im entscheidenden Moment voll konzentrieren und seine Emotionen, Gedanken und seine Nervosität beherrschen muss. Und sei es eben mithilfe eines Handtuchs, wie Thomas Röhler im Sommer 2016 in Rio de Janeiro.

Olympiasieger-Workout: Übungstipps von Thomas Röhler im Video
 

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