In knapp vier Wochen fallen bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig die Entscheidungen. Beim Stabhochsprung der Frauen werden dort Annika Beckers 4,77 Meter als Meisterschaftsrekord in den Statistiken auftauchen. Wir erinnern an eine besondere DM-Entscheidung heute vor 18 Jahren, die mit drei deutschen und einem Europarekord gekrönt wurde. Und an eine leider viel zu kurze Karriere der Ausnahmeathletin Annika Becker.
Es ist 17:46 Uhr am 7. Juli 2002, als Annika Becker DM-Geschichte schreibt. Im Wattenscheider Lohrheidestadion fliegt die damals 20 Jahre alte Stabhochspringerin von der LG Alheimer/Rotenburg/Bebra im ersten Versuch scheinbar schwerelos über 4,77 Meter. Deutscher Rekord, Europarekord – und auf den Tag genau 18 Jahre später noch immer Meisterschaftsrekord. Eine Bestmarke, die heute volljährig wird. Apropos Geburtstag: „Meine Mutter hat heute Geburtstag, ihr widme ich den Sieg“, jubelte Annika Becker damals nach ihrem Triumph bei den Deutschen Meisterschaften.
Es war nicht nur ein Sprung für Geschichtsbücher, sondern auch für Stabhochsprung-Ästheten. Obwohl Annika Becker die Latte beim Überqueren schon leicht mit den Oberschenkeln touchierte, hatte sie die athletische Klasse, ihren zehnten Sprung des Wettkampfes noch zu retten und den dritten deutschen Rekord nach 4,65 (im zweiten Versuch) und 4,72 Metern (im ersten Versuch) an einem Tag aufzustellen.
Die alte Bestmarke hielt bis zu Annika Beckers denkwürdiger Flugstunde Yvonne Buschbaum (VfB Stuttgart) mit 4,64 Metern. Den 2001 bei der WM in Edmonton (Kanada) aufgestellten Europarekord von Svetlana Feofonova (Russland) steigerte sie in Wattenscheid um zwei Zentimeter.
Der zweitbeste Sprung der Stabhochsprung-Geschichte
Erst 4,82 Meter waren an diesem Spätnachmittag zu hoch für Annika Becker. Diese Marke wäre gleichbedeutend mit einem neuen Weltrekord gewesen. Den hielt damals die US-Amerikanerin Stacy Dragila seit knapp einem Jahr mit 4,81 Metern. Doch bei den Wettkampfsprüngen 11 bis 13 waren bei Annika Becker die Beine verständlicherweise schwer und die Luft raus.
Nichtsdestotrotz war es eine der imponierendsten Leistungen der jüngeren DM-Geschichte und der damals zweitbeste Sprung der Stabhochsprung-Geschichte überhaupt. Annika Beckers 4,77 Meter sollten neun Jahre und fünf Tage als deutscher Rekord geführt werden. Erst Martina Strutz (Hagenower SV) verbesserte diesen 2011 zweimal auf 4,80 Meter. Silke Spiegelburg (TSV Bayer 04 Leverkusen) setzte 2012 noch einmal zwei Zentimeter drauf.
"Sprungstark und eine brillante Technikerin"
Wer weniger den Statistiken als seinen Augen vertraute, sah vor 18 Jahren eine junge Stabhochspringerin mit allen Voraussetzungen, die erste Fünf-Meter-Springerin der Welt zu werden. Dies gelang der immer noch amtierenden Weltrekordlerin Yelena Isinbayeva (Russland) gut drei Jahre später in London. „Annika war äußerst sprungstark und eine brillante Technikerin. So konnte sie extrem harte Stäbe springen“, erinnert sich Thomas Weise. Er trainierte damals zusammen mit Wolfgang Weber das Ausnahmetalent.
„Gut angefühlt hat es sich dort“, sagte Annika Becker, als sie im Lohrheidestadion von der Journalistenmeute befragt wurde. Auch heute blickt sie gern auf ihren Rekord-Sprung zurück: „Man kommt bei Gesprächen natürlich immer wieder auf dieses Thema.“
2004 beendet ein Trainingsunfall die Karriere viel zu früh
Annika Becker blieb anders als Yelena Isinbayeva, Stacy Dragila oder Svetlana Feofanova eine lange Karriere verwehrt. Im Februar 2004 durchkreuzte ein schlimmer Trainingsunfall alle sportlichen Träume der Hessin. Fünf Tage nach ihrem deutschen Hallenrekord (4,68 m) in Dortmund brach beim Training in Bad Sooden-Allendorf ein Stab. Annika Becker stürzte unglücklich auf die Matte und verletzte sich schwer am Hals.
„Es war die erste Technikeinheit nach der Hallen-Bestmarke. Sie hatte zuvor zehn tolle Sprünge gezeigt, als es knallte“, erinnert sich Thomas Weise. 20 lange Minuten mussten Athletin und Trainer auf den Notarzt warten. „Das war ein sehr traumatisches Erlebnis, da wir nicht wussten, wie schwer die Verletzung war“, so Thomas Weise.
Zum Glück blieb die Halswirbelsäule unverletzt, doch ein komplizierter Muskelfaserriss musste zwei Wochen lang behutsam in der Klinik behandelt werden. Als Annika Becker die Halskrause wieder ablegen durfte, war an Stabhochsprung nicht zu denken. Erst nach einer längeren Trainingspause griff sie wieder zum Stab. Doch im Sommer 2004 kam sie nicht über 4,20 Meter hinaus. „Das war indiskutabel und die Chance auf eine Olympia-Teilnahme vorbei“, blickt Annika Becker zurück. Es sollte das letzte Mal bleiben, dass Annika Becker den Stab in die Hand nahm. „Ich war vom Kopf nicht so weit und konnte nicht mehr springen“, sagt die Hessin.
DM-Dritte als Weitspringerin
Später startete sie als Weitspringerin und sprang 2005 sogar 6,45 Meter weit und zu DM-Bronze in der Halle. Für internationale Top-Weiten fehlte ihr allerdings die nötige Geschwindigkeit. Ihren letzten Wettkampf bestritt Annika Becker bei der Hallen-DM 2009 in Leipzig.
Unterhält man sich mit ihr über ihre (zu kurze) Karriere, merkt man schnell, dass Annika Becker mit sich im Reinen ist. Sie hat akzeptiert, nicht über Jahre zu den besten Stabhochspringerinnen der Welt gehört zu haben und eventuell als Erste die Fünf-Meter-Marke zu überspringen. Stolz ist sie auf ihre WM-Silbermedaille von 2003. In Paris musste sie sich nur Svetlana Feofanova geschlagen geben, die ihr übrigens neun Tage nach dem Europarekord von Wattenscheid diesen mit 4,78 Meter wieder abnahm. Weltrekordlerin Yelena Isinbayeva verdrängte Annika Becker bei der WM in Paris auf Rang drei.
Seit 2009 Annika Lang
Heute verfolgt die 38-Jährige, die seit ihrer Heirat 2009 den Nachnamen Lang trägt, die Leichtathletik und den Stabhochsprung noch immer. „Zwar nicht so intensiv wie früher, aber interessiert bin ich schon“, erklärt sie. Die Grundschullehrerin ist ihrer Heimat treu geblieben und lebt mit ihrem Mann Robert, ihrer zehnjährigen Tochter und dem sechsjährigen Sohn in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bebra.
Von den Stabhochspringerinnen der historischen DM 2002 ist heute nur noch Martina Strutz (damals Achte mit 4,20 m) aktiv. Und damit genau die Stabhochspringerin, die Annika Beckers deutschen Rekord 2011 nach neun Jahren verbesserte und ebenfalls zu WM-Silber sprang.