Aufgrund von Verletzungen konnte Kristin Gierisch (TSV Bayer 04 Leverkusen) seit 14 Monaten keinen Wettkampf mehr bestreiten. Im Interview spricht die Deutsche Rekordhalterin über die schwierige Zeit, den Vereins- und Trainerwechsel und ihre Faszination für den Dreisprung.
Kristin Gierisch, haben Sie sich nach Ihrem Wechsel nach Leverkusen schon einmal auf dem Außengelände des TSV Bayer 04 genauer umgeschaut?
Kristin Gierisch:
Ja, erst neulich beim Training. Bei schönem Wetter konnten wir unsere Tempoläufe endlich draußen absolvieren.
Was stand denn auf dem Trainingsplan?
Kristin Gierisch:
300-Meter-Läufe. Die waren ziemlich hart, danach habe ich mich zu Hause erstmal schlafen gelegt.
Am Wurfplatz oberhalb des Stadions steht auf der Fritz-Jacobi-Anlage ein Schaukasten, in dem die Vereinsrekorde aushängen. Kennen Sie den Vereinsrekord im Frauen-Dreisprung?
Kristin Gierisch:
Ja, an dem Aushang gehe ich jeden Tag vorbei. Der Rekord steht bei 14,31 Metern. Bald soll sich die Weite geändert haben und mein Name dort stehen.
Beide Bestmarken – 14,31 Meter im Freien und 14,36 Meter in der Halle – hält seit 24 Jahren Petra Lobinger. Sind das – unabhängig vom Vereinsrekord – Weitenregionen, an denen Sie sich in diesem Jahr orientieren? Schließlich haben Sie seit 14 Monaten keinen Wettkampf mehr bestreiten können.
Kristin Gierisch:
Wichtig ist es, gesund durch die Vorbereitung zu kommen. Wenn das gelingt, möchte ich in diesem Jahr wieder solche Weiten springen und noch ein Stück weiter. Man darf dabei nicht vergessen: Ich habe nicht nur seit 14 Monaten keinen Wettkampf bestritten, sondern auch meinen Trainer und Trainingsort gewechselt. Es wird darum gehen, in kleinen Schritten zu denken und sich in kleinen Schritten zu verbessern. Generell halte ich aber an meinen hohen Zielen fest.
Das heißt: Bis zum Ende Ihrer Karriere sollen die 15 Meter fallen?
Kristin Gierisch:
Ja, an diesem Ziel halte ich fest. Bis zum Ende meiner Karriere möchte ich gern die 15 Meter gesprungen sein.
Blicken wir noch einmal zurück: Nach Ihren 14,61 Metern 2019 in Garbsen hatten Sie mit heftigen Verletzungsproblemen zu kämpfen. Nach Fußproblemen 2019 folgte 2020 eine Hand-OP. Können Sie noch einmal kurz erläutern, welche Verletzungen Sie in den vergangenen beiden Jahren ausgebremst haben?
Kristin Gierisch:
Die schwerwiegendste Verletzung betraf 2019 den rechten Fuß. Da stand sogar ein Karriereende im Raum. Das Fettgewebe um die Plantarsehne unter dem Fuß hatte sich um die Hälfte reduziert. So fehlte das Schutzpolster der Sehne, was zu enormen Problemen geführt hat. Diese Verletzung ist zum Glück komplett auskuriert. Trotzdem müssen wir weiter aufpassen, dass die Sehne nicht überlastet wird. Mein Trainer Charles Friedek geht mit der Situation sehr sensibel um und stellt das Training darauf ein. Wir können eine hohe Qualität im Training umsetzen und kommen bisher gut durch die Vorbereitung.
Nach dem Abschluss Ihrer Ausbildung bei der Bundespolizei im vergangenen Winter trainieren Sie in Leverkusen. Wie beurteilen Sie Ihren aktuellen Leistungsstand knapp vier Monate vor den Olympischen Spielen?
Kristin Gierisch:
Ich bin seit dem 1. März in Leverkusen. Darum ist es momentan schwierig zu sagen, wo ich stehe. Klar ist: Wenn ich den ersten Wettkampf angehe, wird es passen. Ich fühle mich rundum wohl hier in Leverkusen mit meiner Trainingsgruppe. Dazu zählen unter anderem Imke Daalmann, Stefanie Kuhl und Christoph Garritsen. Wir unterstützen uns gegenseitig im Training, beispielsweise können sie mir Übungen zeigen, die ich bisher noch nicht kannte. Außerdem trainiere ich nun endlich am selben Ort wie Katharina Bauer. Wir sind seit der U18-WM 2007 eng befreundet. Für uns beide geht damit ein kleiner Traum in Erfüllung.
In welche Bereichen müssen Sie nach der langen Pause denn noch am meisten aufholen?
Kristin Gierisch:
Definitiv in der Schnelligkeit. Technik und Kraft verliert man nicht so schnell wie den nötigen Speed. Das habe ich in den vergangenen Wochen gespürt (lacht). Man darf dabei nicht vergessen, dass ich ja eine lange Zeit draußen war. Nach der Verlegung der Olympischen Spiele bin ich in ein mentales Loch gefallen, weil das große sportliche Ziel gefehlt hat. In der Zeit hat mich die Bundespolizei aufgefangen und ich bin sehr dankbar, dass ich den „Aufstieg“ vom mittleren in den gehobenen Dienst absolvieren konnte. Da habe ich meine Aufgabe außerhalb des Sports gefunden. Während dieser Zeit habe ich gemerkt, dass das Feuer für den Dreisprung noch ganz hell in mir brennt. Ich möchte noch einmal dort hin, wo ich schon einmal war. Gleichzeitig wusste ich, dass ich nach 18 Jahren in Chemnitz etwas ändern musste. Ich habe auf mein Herz gehört und bin diesen neuen Weg gegangen.
Welches sind die größten Unterschiede in der Trainingsphilosophie von Charles Friedek und Ihrem langjährigen Coach Harry Marusch?
Kristin Gierisch:
Das Training ist etwas anders aufgebaut als in Chemnitz. Wir absolvieren beispielsweise längere Einheiten, aber nur eine am Tag. In Chemnitz standen auch schon mal zwei Einheiten pro Tag an. Die ersten Wochen in Leverkusen waren trotzdem hart, ich bin schon einige Male auf dem Zahnfleisch gekrochen. Das Training motiviert mich und ich vertraue Charles vollkommen. Ich bin gespannt, welche Ergebnisse im Sommer herauskommen.
In den Monaten vor Ihrer Freiluft-Rekordmarke 2019 haben Sie Ihre Sprungabfolge geändert. Statt „rechts – rechts – links“ springen Sie seitdem „links – links – rechts“. War dieser enorme Eingriff in einen so komplexen Ablauf kein Risiko?
Kristin Gierisch:
Der Eingriff ist nicht so groß, wie man denkt. Denn wir trainieren schon seit jeher beide Seiten gleichermaßen. Max Heß hat beispielsweise schon zweimal sein Sprungbein gewechselt. Man muss nur den Mut haben, im Wettkampf voll draufzugehen. Wenn ich den Mut schon ein Jahr zuvor gehabt hätte, wäre bei der EM in Berlin vielleicht sogar Gold möglich gewesen. Rückblickend kann ich sagen: Es war die absolut richtige Entscheidung.
Ihre ersten deutschen Rekorde sind Sie 2009 in der U20-Klasse mit 14,02 Metern im Freien und 13,66 Meter in der Halle gesprungen. Das ist schon einige Jahre her. Was fasziniert Sie so sehr an der Disziplin Dreisprung?
Kristin Gierisch:
Dass man drei perfekte Sprünge für ein gutes Ergebnis braucht. Selbst wenn man Hop und Step optimal erwischt, kann ein schlechter Jump alles zunichtemachen. Diese Komplexität gefällt mir, darum hätte ich auch niemals Weitspringerin werden können, die „nur“ einmal abspringen müssen.
Gab es das eine Erlebnis, nach dem Sie wussten: Ich werde Dreispringerin!
Kristin Gierisch:
Ja, es muss 2004 gewesen sein. Da habe ich Christian Olsson im Fernsehen gesehen. Sein Bewegungsablauf hat mir so imponiert, es sah so leicht aus. Das wollte ich auch erleben. Wenn ich jetzt das Tempo und die Bewegung im Sprung fühle, ist es immer noch der Wahnsinn. Ich liebe es.
Obwohl es aufgrund der aktuellen Situation nur schwer planbar ist: Wie sieht Ihr Fahrplan bis zu den Olympischen Spielen in Tokio aus?
Kristin Gierisch:
Mitte April war ein Trainingslager auf La Palma geplant. Darauf verzichten wir aber nun. Die Saison 2020 hat gezeigt, dass man auch ohne Trainingslager Top-Leistungen bringen kann. Meine Familie hat einen guten Freund an Corona verloren. Darum möchte ich nicht durch die Welt reisen, sofern es sich in aktuellen Situation vermeiden lässt.
Die Olympia-Quali haben Sie mit dem Sprung in Garbsen bereits erfüllt. Mit Neele Eckhardt-Noack hat eine zweite deutsche Springerin bei der Hallen-EM mit 14,52 Metern nachgezogen. Haben Sie den Wettkampf in Torun verfolgt?
Kristin Gierisch:
Natürlich saß ich vor dem Livestream und habe mit Neele mitgefiebert und die internationale Konkurrenz beobachtet. Ich wusste schon lange, dass Neele einen solchen Sprung drauf hat. Ich gönne ihr diese Leistung und die Medaille von Herzen, denn Neele ist ein so herzlicher Mensch und ein toller Charakter.
Sind Sie nach dieser Leistung von Neele Eckhardt-Noack nun nach vielen Jahren erstmals nicht die Gejagte im deutschen Frauen-Dreisprung, sondern die Jägerin?
Kristin Gierisch:
Das kann man so nicht sagen. Es werden Wettkämpfe auf Augenhöhe, das motiviert mich für den Sommer. Diese Konkurrenz wird uns beide weiterbringen. Eine ähnliche Situation hatte ich ja über viele Jahre ab der Jugendklasse mit Jenny Elbe. Das hat uns beide angespornt und weitergebracht.
Wie muss die Saison 2021 verlaufen, damit Sie sagen können: „Das war ein gutes Jahr.“ Reicht dafür der Name Kristin Gierisch im Schaukasten auf der Leverkusener Anlage?
Kristin Gierisch:
Nein, das reicht nicht. Ich möchte aus jedem Wettkampf mit einem positiven Gefühl gut rauskommen. Und nicht nach jedem Wettkampf mit Problemen kämpfen. Ich glaube, dass ich trotz der längeren Pause von meiner Erfahrung profitieren und so an meine Weiten von 2019 anknüpfen werde.