WM in Peking (China), Hallen-EM in Prag (Tschechien), dazu diverse internationale Nachwuchsmeisterschaften, nationale Titelkämpfe und Meetings. leichtathletik.de war 2015 erneut bei vielen Veranstaltungen live vor Ort. Dabei haben unsere Reporter nicht nur aktuell berichtet, sondern es haben sich viele Ereignisse tief ins Gedächtnis eingeprägt. Stellvertretend blicken wir auf ausgewählte Momente zurück - und beginnen mit einem Samstagnachmittag in Tallinn.
An diesem Samstagnachmittag in Tallinn ist Christin Hussong nicht mehr zu halten. Die Speerwerferin stürmt bei der U23-EM an die Bande und direkt in die Arme ihres Vaters und Trainers Udo. Mit 65,60 Metern hatte sich die 21-Jährige vom LAZ Zweibrücken wenige Augenblicke zuvor in eine neue, in die oberste Leistungsliga überhaupt katapultiert – in die absolute Weltklasse.
„Ich weiß gar nichts mehr von diesem Wurf, vom Anlauf bis zum Abwurf nicht“, sprudelt es kurz danach aus der langen Blondine mit den großen Augen heraus. Klar ist die EM-Siebte des Vorjahrs mit dieser Ausnahmeweite in Estlands Hauptstadt nicht zu gefährden. Exakt sieben Meter legt sie zwischen sich und die Ukrainerin Kateryna Derun (58,60 m). Auf die drittplatzierte Litauerin Liveta Jasiunaite (55,77 m) sind es sogar fast deren zehn. Was aber noch wichtiger ist. In Tallinn erstrahlt der aufgehende Stern der Christin Hussong endlich im vollen Glanz.
James Olympiasieger, Hussong Siebte der U20-WM
Dabei musste sie in ihrer jungen Karriere schon einige Rückschläge hinnehmen. 2011 in Lille (Frankreich) stand sie ganz oben, kratzte als U18-Weltmeisterin schon an den 60 Metern. Der Weltverband IAAF ehrte sie für diese Leistung als „Rising Star“ - als aufgehender Stern. Bei den Männern ging diese Ehrung an Kirani James. Der 400-Meter-Läufer aus Grenada wurde schon ein Jahr später Olympiasieger, Christin Hussong Siebte der U20-WM. Die Entwicklung war ins Stocken geraten. Fast drei Jahre musste sie auf die Steigerung ihrer Bestleistung warten. „Ich war jung und dachte, es geht einfach so weiter. Aber so war es nicht.“ Es kam die Erkenntnis, dass große Weiten hart erarbeitet werden müssen. „Man muss sich im Training quälen.“
Das tat sie. Erste Früchte erntete sie 2014 als EM-Siebte von Zürich (Schweiz). Danach folgte die Steigerung in Tallinn um 2,26 Meter (deutscher U23-Rekord) und ein paar Wochen später WM-Rang sechs in Peking. Ihr schon 2011 aufgeblitztes Ausnahmetalent hatte Christin Hussong endlich umgesetzt. Es sind eben genau diese Rückschläge, die Leistungssportler in ihrer Karriere oft den entscheidenden Schritt nach vorn bringen.
Das Gesicht spricht Bände
Ähnlich erging es einem ihrer Vereinskameraden, Stabhochspringer Raphael Holzdeppe. Nach seinem WM-Titel 2013 lief anderthalb Jahre nicht viel zusammen für den 26-Jährigen. <link news:44940>Mittlerweile ist der aktuelle Vize-Weltmeister besser und konstanter denn je und spricht offensiv von den sechs Metern.
Den entscheidenden Schritt machte Christin Hussong in Tallinn. Sie wirkte nach dem Gold-Wettkampf glücklich und extrem befreit. „Endlich hat sich die verdammt harte Arbeit ausgezahlt“, ließ sich aus ihrem strahlenden Gesicht lesen. Für genau solche Momente leben Sportler. Und die Genugtuung ist umso größer, wenn die Karriere nicht ständig ganz steil nach oben verläuft, wenn Siege und Top-Resultate nicht längst Selbstläufer sind.
Christin Hussong hat eine sportliche Krise in jungen Jahren gemeistert und wird mit ziemlicher Sicherheit noch viele Male den Speer so technisch perfekt in die Luft schicken wie an diesem Samstagnachmittag in den blauen Himmel von Tallinn.