Eigentlich wollte Norman Müller noch eine Hallensaison absolvieren und erst mit Beginn der Freiluft seine Laufbahn als Zehnkämpfer beenden. Doch es gab zwei Dinge, die dem EM-Siebten von 2012 nicht in die Karten spielten. Erstens: mehrere grippale Infekte. Und zweitens: die Deutschen Mehrkampf-Meisterschaften fielen in der Halle dieses Jahr aus.
Warum also nicht gleich in den neuen Lebensabschnitt nach dem Leistungssport starten und sich nur noch mit Ausdauer- und Krafttraining fithalten? Von seiner Trainingsgruppe in Halle und dem großen Mehrkampf-Team hatte sich Müller schon im November beim Lehrgang in Kienbaum verabschiedet. Mittlerweile ist der 29-Jährige nach Nürnberg gezogen. Ursprünglich war angedacht, ähnlich wie Julia Mächtig (SC Neubrandenburg) wochenweise von dort nach Halle zu pendeln.
Denn: Müller hat seine Karriere nicht ganz freiwillig beendet. Er hatte Pläne bis 2016, wollte sich im Sommer mindestens mit einem guten Zehnkampf verabschieden und vielleicht für eine internationale Meisterschaft qualifizieren. Möglicherweise sogar den Standort wechseln. Nochmal neue Anreize und Motivation in der Ulmer Trainingsgruppe von Christopher Hallmann tanken, die er in der Konstellation um Arthur Abele „sehr interessant“ findet.
Kaderstatus adieu
Aber Ende des vergangenen Jahres wurde sein Kaderstatus revidiert, zu hoch die Dichte an starken Leistungsträgern im Zehnkampf in Deutschland. Aus der ewigen Wiederkehr der zehn Disziplinen, wie er sie mit seinen Trainingskollegen, Michael Schrader (SC Hessen Dreieich) und Rico Freimuth (SV Halle) Tag für Tag durchlebte, war Müller raus. Eine Vorahnung hatte er beim letzten Mehrkampf-Meeting in Ratingen schon gehabt, als er unter der 8.000-Punkte-Grenze blieb.
„Entweder man ist Zehnkämpfer oder nicht“, sagt Müller über die besondere Einstellung, die ein Mehrkämpfer mitbringen muss, um sich durch die vielen Anforderungen zu quälen. Sprint, Sprung, Wurf und Ausdauer. „Man muss eine hohe Leidenschaft und eine hohe Leidensfähigkeit mitbringen. Und man muss sich selbst diszipliniert immer wieder in den Arsch treten können, damit man diese Strapazen durchhält.“ Müller wird dieses Jahr 30, er wollte es ohnehin langsam ausklingen lassen.
Lange Zusammenarbeit mit einem Trainer
Über seine gesamte Zeit hatte der WM-Teilnehmer von 2007 und 2009 einen engagierten Coach: Wolfgang Kühne. Dessen methodische und theoretische Kompetenz er sehr schätzt. Trotz der langen Zusammenarbeit über 14 Jahre ging der Siebenkampf-Bundestrainer stets neue Wege. „Er lässt sich immer wieder darauf ein, neue Dinge zu machen, einen komplett anderen Aufbau, unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Dazu holt er sich andere Meinungen ein und ist sehr flexibel im Kopf.“
Auch die Trainingsgruppe veränderte sich im letzten Jahr und profitierte von Cindy Roleder (LAZ im SC DHfK) und Julia Mächtig. „Die Kommunikationsstruktur war dadurch nicht mehr die komplette Blödelei“, erzählt Müller. Spaß gab es oft, die Atmosphäre war gut. Müller bildete mit Thorsten Margis, der vor kurzem Bob-Weltmeister wurde und auch gelegentlich mit der Truppe trainierte, eher den Ruhepol. „Wir hatten eine sehr heterogene Trainingsgruppe, in der aber alle an einem Strang gezogen haben.“
Schönste Momente im Sprung
Müller empfindet für die lange Unterstützung große Dankbarkeit auch gegenüber seinem Verein, den Halleschen Leichtathletik-Freunden. Ebenso für die Zeit, die vielen Reisen und Freundschaften, die gute Betreuung durch die Physiotherapeuten. „Das waren immer schöne Dinge, an die ich mich immer zurück erinnern werde.“
In seiner Jugend feierte Müller große Erfolge: Bronze bei der U20-WM 2004 und Bronze als 19-Jähriger bei der U23-EM 2005. Ziel war aber von Anfang an, was bei den Aktiven passiert. Sein erster internationaler Einsatz bei der WM 2007 in Osaka (Japan) „war schön, aber auch schön traurig wegen meinem Salto Nullo im Stabhochsprung.“ Ein einprägsamer Moment, genauso wie die Heim-WM 2009 in Berlin.
Einer seiner besten Augenblicke: der Sprung über 5,15 Meter im Stabhochsprung 2008 beim Thorpe Cup in Kansas (USA). „Weil ich damit nie gerechnet hätte und die Freude über die Leistung riesig war!“ erinnert er sich. Bestleistung nach einer schwierigen Phase - seine Lungenflügel waren im gleichen Jahr kollabiert.
Knapp 8.000 Punkte verfehlt
2011 wurde der Polizist zweimal an der Lunge operiert, stellte danach in Frage, ob es mit dem Sport noch weitergehen kann. „Komischerweise hat das bei mir nochmal eine mentale Raketenzündung verursacht.“ Müller wollte sich nochmal beweisen. 2013 ist er beim Zehnkampf in Ratingen „auf einer super Welle geschwommen“. Highlight war seine Flugshow. Bei guter Musik steigerte er seine Bestmarke um neun Zentimeter auf fantastische 2,12 Meter. Position drei nach fünf Disziplinen.
An Tag zwei sammelte Müller bis auf mit dem Stab (4,60 m) viele Punkte: 8.179, nicht weit von seiner Bestleistung (8.295 Punkte). Aber bei der starken Konkurrenz - in der Breite ein außergewöhnliches Zehnkampf-Resultat des DLV - konnte sich der schlanke Mehrkämpfer als Sechster nicht für die WM in Moskau (Russland) qualifizieren.
Ein Jahr später erlebte er an gleicher Stelle mit einem Flop über nur 1,92 Meter die Krise. „Das war ein ordentlicher Schlag.“ Das kostete ihn so viele Zähler, dass Müller zum ersten Mal nach langer Zeit die 8.000-Punkte-Marke verpasste (7.995), das Eintrittstor zum Spitzenniveau. In dem Moment wurde ihm schon bewusst, dass es für das nächste Jahr eng werden könnte, das womöglich sein letzter Zehnkampf war. "So war es dann auch.“
Neuer Lebensabschnitt beginnt
Dass ihm seine Paradedisziplin zum Verhängnis wurde, liegt auch daran, dass er seine Stärke im Winter wenig trainiert hatte. In der Halle lag der Schwerpunkt auf dem Sprint, auf den 100 Metern verbesserte er sich auf 10,85 Sekunden. Nach einer Verletzung Anfang 2014, Muskelfaserriss in der Wade im Trainingslager in Südafrika, konnte er die Sprungdisziplinen nicht wie sonst Richtung Sommer trainieren. So fehlten Timing und Routine in der Technik. „Das war natürlich schade für mich.“
Aber der dreifache Deutsche Vizemeister im Mehrkampf zieht Positives aus dieser Wendung. „Ich bin auch froh, dass ich jetzt mein zweites Leben nach dem Sport in Angriff nehmen kann“, blickt er in die Zukunft. Norman Müller hat eine kleine Familie. In der Ferne wird er den Zehnkampf-Zirkus noch weiter verfolgen. Mit Gefallen beobachtet er die Rückkehr von Arthur Abele. „Da können sich die Jungs im Sommer warm anziehen.“ Müller gehört dann nicht mehr dazu, er beginnt stattdessen seinen Dienst bei der Bundespolizei.