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Oleg Zernikel und der harte Weg vom Talent zum gereiften Athleten

Der Schritt von der Jugend bis in die Spitze der Aktiven – nur wenigen gelingt er spielend, viele lehrt er Geduld und Demut, so manch einer verzweifelt daran. Stabhochspringer Oleg Zernikel hätte fast zur dritten Kategorie gezählt. Nach einer langen Durststrecke hat der 25-Jährige jedoch noch einmal (fast) alles umgekrempelt und steht jetzt als gereifter Athlet vor seinem ersten internationalen Start in der Männerklasse.
Silke Bernhart

| Es war einmal ein kleiner Junge mit sehr großem Talent. Schwere Übungen meisterte er mit spielerischer Leichtigkeit. Sogar die vielleicht komplexeste aller leichtathletischen Disziplinen – den Stabhochsprung. In der Jugend eilte er von Erfolg zu Erfolg. Doch dann verlor er seine Leichtigkeit. Er machte weiter und wusste nicht warum. Bis er irgendwann lernte, sich eigene Ziele zu setzen und seinen eigenen Weg zu verfolgen. An die Stelle von Leichtigkeit traten Gelassenheit und Stärke. Diese führten ihn sogar bis zu den Olympischen Spielen. |

So ungefähr könnte die Kurzversion eines Märchens über die Karriere von Oleg Zernikel lauten – wenngleich zur Erfüllung seines Olympia-Traums noch ein hartes Stück Arbeit vor ihm liegt. Die Hallen-EM-Norm von 5,72 Metern hat er aber schon mal in der Tasche. Und ohnehin ist die Geschichte bis dorthin diejenige, die mindestens ebenso bemerkenswert ist. Denn sie erzählt von einem Athleten, der über Zweifel und Rückschläge in kleinen Schritten zu sich selbst und zu innerer Stärke gefunden hat. Sie soll hier im Mittelpunkt stehen.

Nach Deutschland mit elf, WM-Bronze mit 19

Die lange Reise von Oleg Zernikel beginnt schon im Kindesalter mit dem Abschied aus seiner ersten Heimat Kasachstan und dem Neustart mit seiner Familie in Landau in der Pfalz. Im nahe gelegenen Ludwigshafen lernte er die Stabhochsprung-Familie Ryzih kennen, trainiert erst bei Katja, dann bei Vladmir – Eltern der vielfachen Deutschen Meisterin Lisa Ryzih. Im Alter von 13 Jahren traf er dann auf Jochen Wetter. Dieser holte ihn zum ASV Landau und brachte ihn bis zu Platz vier der U18-Weltmeisterschaften 2011 sowie zu Bronze 2014 bei der U20-WM in Eugene (USA).

Oleg Zernikel war 19, als er sich in Eugene über 5,50 Meter schwang. Im Jahr darauf packte er noch einen Zentimeter drauf. Dann ging gar nichts mehr. Fünf Jahre ließ die nächste Bestleistung auf sich warten. Dazwischen: Viel Frust. Viele Enttäuschungen. Ein kleiner Lichtblick mit Platz fünf bei der U23-EM 2017 und 5,40 Metern. Aber auch Wettkämpfe, in denen Oleg Zernikel nicht einmal mehr über 5,00 Meter hinauskam.

„Was willst du überhaupt erreichen?“

„Du fängst an und alles ist einfach. Und plötzlich läuft es nicht mehr und du beginnst nachzudenken. 2016 hatte ich eine Phase, da ging gar nichts mehr. Ich war kurz davor aufzuhören. Ich war verzweifelt und hatte keine Ziele. Ich habe mich gefragt: Was willst du überhaupt erreichen?“

Oleg Zernikel begann, sich mit seinen Zielen auseinanderzusetzen und an seinen Schwächen zu arbeiten. Er führte viele Gespräche unter anderem mit seinen Eltern. Er holte sich Hilfe bei einem Sportpsychologen. Er begann zu meditieren und mentales Training in seinen Alltag einzubinden. Er verzichtete auf die geliebten Festivals. Ließ den Alkohol weg. Er wechselte das Studienfach, entschied sich gegen den Maschinenbau und für Umweltwissenschaften – weil dieses Studium besser mit dem Leistungssport vereinbar ist.

Langwieriger Prozess

Erst einige Jahre später sollten sich diese Entscheidungen auszahlen. Im Jahr 2018 musste Oleg Zernikel zunächst weitere Rückschläge verkraften, private und sportliche, auch eine Handverletzung kam dazu. Er bestritt in diesem Jahr nur fünf Wettkämpfe – drei davon ohne gültigen Versuch, die anderen beiden mit Sprüngen über 4,80 Meter und 5,05 Meter.

„Die Leute verlieren irgendwann den Glauben an dich“, sagt Oleg Zernikel. Einer aber hat ihm immer wieder gesagt, dass er auf ihn setzt: sein Trainer Jochen Wetter. „Jochen hat mich von allen am meisten unterstützt. ‚Du kannst es doch, mach doch weiter!‘ hat er zu mir gesagt. Und wenn im Training nichts ging, dann haben wir andere, neue Sachen gemacht, nur damit ich dabeigeblieben bin“, erinnert sich der Stabhochspringer.

„Zweifler siegen nie“

„Die Begabung war immer da“, sagt Jochen Wetter, „aber die Psyche war schwierig. Ich sage immer: Zweifler siegen nie.“ Der Stabhochsprung-Experte, der kürzlich seinen 80. Geburtstag feierte, ist für Oleg Zernikel mehr als nur Trainer und Manager. Er ist ein großväterlicher Mentor, der seinen Athleten auch in der schulischen Laufbahn unterstützte, ihm nach dem Hauptschul-Abschluss beim Wechsel auf die Realschule gut zuredete und schließlich auch bei der Entscheidung für das Fachabitur und den Studienbeginn.

In den vergangenen Jahren hat Jochen Wetter miterlebt, wie sein Schützling erwachsen geworden ist: „Aus einem introvertierten Typen ist ein selbstbewusster, nach außen gerichteter Mensch geworden“, sagt er.

Körperlich alle Voraussetzungen

Ein Mensch, der sein Schicksal mittlerweile selbst in die Hand genommen hat. In Absprache mit Jochen Wetter suchte Oleg Zernikel den Austausch mit Bundestrainer Andrei Tivontchik und holte ihn als zweiten Coach mit ins Team. „Oleg ist auf mich zugekommen und ich habe ihm gesagt: Klar, du kannst bei uns vorbeischauen! Dann hat sich die Zusammenarbeit Schritt für Schritt entwickelt“, blickt Andrei Tivontchik zurück.

Dreimal pro Woche fährt der Stabhochspringer nun von Landau ins rund 70 Kilometer entfernte Zweibrücken und absolviert Technikeinheiten gemeinsam mit Ex-Weltmeister Raphael Holzdeppe. In Landau hat er darüber hinaus seit Kurzem in einer neu erbauten Leichtathletikhalle beste Bedingungen für alle weiteren Trainingseinheiten bei Jochen Wetter, einschließlich einer Stabhochsprung-Anlage und Turngeräten.

„Ich habe schon 2014 sein Potenzial gesehen“, sagt Andrei Tivontchik. „Oleg hat körperlich alle Voraussetzungen, er ist schnell, er ist explosiv, es ist alles da. Nur das Selbstvertrauen und die Ruhe haben ihm gefehlt. Aber jetzt hat er seinen Weg gefunden.“

Steigerung auf 5,72 Meter

Dieser Weg führte Oleg Zernikel in der Saison 2020 schon zu einer neuen Freiluft-Bestleistung von 5,60 Metern – der ersten seit fünf Jahren – und in der laufenden Hallensaison hinaus bis auf 5,72 Meter. Die Norm für die Hallen-EM in Torun (Polen; 4. bis 7. März) hat er damit erfüllt und angesichts der nationalen Konkurrenz beste Chancen auf seinen ersten internationalen Einsatz in der Männerklasse.

„Das war nicht zu erwarten“, sagt Oleg Zernikel, denn erst mit dem guten Einstieg in Leverkusen Mitte Januar mit 5,62 Metern hatten sich für ihn überhaupt weitere Wettkampf-Gelegenheiten wie in der World Athletics Indoor Tour in Karlsruhe oder beim ISTAF Indoor in Berlin ergeben. Von vier Wettkämpfen jenseits seiner vorherigen Bestmarke sei er „selbst ein bisschen erstaunt gewesen“ – angedeutet hatten sich diese aber durchaus, mit Trainingssprüngen sogar schon über 5,70 Meter. „Da habe ich wirklich gedacht: Was ist denn jetzt los?!“

DM, Hallen-EM – Olympia?

Und dabei soll die neue Bestmarke nur eine Zwischenstation sein, schließlich hat Oleg Zernikel weiterhin vor allem ein großes Ziel vor Augen: die Olympia-Teilnahme in Tokio (Japan). Mit Torben Blech (TSV Bayer 04 Leverkusen) und Raphael Holzdeppe haben zwei DLV-Athleten bereits im Nominierungszeitraum die Norm von 5,80 Metern überboten, auch der weitere Leverkusener Bo Kanda Lita Baehre hat diese Höhe drauf. Vorrang haben jedoch Leistungen ab Dezember 2020 – und auch Oleg Zernikel könnte bald in diese Höhenregionen vorstoßen.

„Ich traue ihm 5,90 Meter zu, wenn er so weiter arbeitet“, sagt Bundestrainer Andrei Tivontchik. Luft nach oben ist unter anderem bei der Wahl der Stäbe, die bei Oleg Zernikel nur 4,90 Meter lang sind. „Wie kannst du mit so kurzen Stäben springen?!“ Diesen Spruch müsse er sich öfter anhören, erzählt Oleg Zernikel lachend. Seine Konkurrenz greift in luftigen Höhen in der Regel zu Stäben von 5,00 oder 5,10 Metern.

„Ich habe noch mal Druck gemacht“

Der nächste Stab- und Höhenvergleich mit Torben Blech und Bo Kanda Lita Baehre bei den Deutschen Hallenmeisterschaften am 20./21. Februar in Dortmund könnte schon die Weichen für die kommende Freiluft-Saison stellen. An selber Stelle war Oleg Zernikel kürzlich beim Dortmunder Hallen-Meeting mit 5,65 Metern der beste Deutsche.

Dementsprechend selbstbewusst fällt sein Ausblick aus: „Ich denke schon, dass ich sie herausfordern kann. Auf jeden Fall habe ich noch mal Druck gemacht. Viele Leute haben schon gesagt: Der deutsche Stabhochsprung ist am Aussterben, wir haben keinen mehr, der 5,70 Meter springt. Jetzt sind wir endlich soweit!“

Auch Trainer Jochen Wetter kann sich dann endlich selbst ein Bild davon machen. Noch hat der 80-Jährige aufgrund der Corona-Pandemie keinen der diesjährigen Höhenflüge seines Athleten vor Ort mitverfolgt. Und auch ein möglicher Hallen-EM-Start von Oleg Zernikel würde ohne ihn stattfinden. Bei den Deutschen Hallenmeisterschaften aber will er dabei sein: „Da fahre ich auf jeden Fall hin!“

Im Video:

2013: Oleg Zernikel schockt die Konkurrenz
2013: Oleg Zernikel über 5,25 Meter
2014: Harry Coppell und Oleg Zernikel über 5,40 Meter
2020: Deutscher Hallen-Vizemeister mit 5,40 Meter

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