Zahlreiche internationale Leichtathletik-Asse haben bei den Olympischen Spielen in Tokio (Japan) für Gänsehautmomente gesorgt. Wir blicken zurück auf herausragende Leistungen, erzählen außergewöhnliche Geschichten und stellen beeindruckende Persönlichkeiten vor. Heute: Kanadas Zehnkämpfer Damian Warner, der fast ein Jahrzehnt auf seinen ersten globalen Titel warten musste, bevor er sich in Tokio zum König der Athleten krönte.
Den Wettkampf seines Lebens macht Damian Warner am 4. und 5. August 2021. Es ist fast genau neun Jahre her, seit er sich bei seinen ersten Olympischen Spielen in London (Großbritannien) erstmals ins Rampenlicht geschoben hatte. Mittlerweile 31 Jahre alt, erlebt der Kanadier das, wovon so viele Sportler träumen und was dennoch nur wenigen gelingt: den nahezu perfekten Zehnkampf auf der größten Bühne des Sports – bei den Olympischen Spielen in Tokio (Japan).
Warner krönt seine rundum starke Leistung mit drei absoluten Weltklasse-Ergebnissen: 10,12 Sekunden im 100-Meter-Sprint bedeuten die Einstellung seiner eigenen Weltbestleistung im Rahmen eines Zehnkampfes. 8,24 Meter im Weitsprung hätten gar zu Bronze im Weitsprung-Finale gereicht. Und 13,46 Sekunden über 110 Meter Hürden hätten ihn in der Spezialdisziplin ins Halbfinale gebracht. Doch der Weltklasse-Zehnkämpfer überzeugt nicht nur in seinen stärksten Disziplinen. „Das ist es, was ich gebraucht habe“, kommentiert er seinen Speerwurf. Am Ende stehen 63,45 Meter zu Buche – Wegbereiter für seine in der olympischen Geschichte bisher einzigartige Leistung.
9.018 Punkte hat Damian Warner nach zehn Disziplinen gesammelt. Olympischer Rekord in einer der ältesten olympischen Disziplinen – und in jener, deren Sieger den Titel „König der Athleten“ trägt. Warner übertrifft den Meisterschaftsrekord um 123 Punkte. Eine Marke, die sich bis dato zwei der größten Athleten aller Zeiten teilen: Roman Sebrle aus Tschechien, der als Erster die 9.000-Punkte-Marke knackte. Und der US-Amerikaner Ashton Eaton, dem als bisher Einzigem das Kunststück gelang, diese Schallmauer gleich zweimal mit Weltrekord zu überbieten. „Als ich in der sechsten Klasse war, habe ich bei einem Schulprojekt geschrieben, dass ich eines Tages an Olympischen Spielen teilnehmen würde“, sagt der Kanadier gegenüber Global News. „Aber wer hätte für möglich gehalten, dass ich einmal Olympiasieger sein werde?“
Corona-Pandemie sorgt für herausfordernde Vorbereitung
Dabei war die Vorbereitung auf Warners dritte Spiele alles andere als optimal verlaufen. Zwar gab die Olympia-Verschiebung auf 2021 dem Olympia-Dritten von 2016 die Chance, eine Knöchelverletzung auszukurieren. Doch die Schließung seiner gewohnten Trainingsstätte und die Reisebeschränkungen stellten Warner und sein Trainerteam vor große Herausforderungen. Das Training verlegte der dreimalige WM-Medaillengewinner in die Farquharson Arena, eine alte Eishockeyhalle in seiner Heimatstadt London, Ontario.
Drei Wochen lang schleppten Warner, seine Trainer Gar Leyshon und Dennis Nielsen sowie zahlreiche Freiwillige Hoch- und Stabhochsprunggeräte, zwölf Tonnen Sand für eine Weitsprunggrube und eine Reihe von Hürden in die Halle. Sie bauten eine erhöhte Stabhochsprungbahn und einen Wurfkreis. Der kanadische Leichtathletikverband stellte seinem Top-Athleten eine Mondo-Laufbahn zur Verfügung. In den ersten Pandemiemonaten lief das Training trotz der ungewohnten Umstände gut. Doch im Winter sank die Temperatur in der Halle auf unter fünf Grad und Damian Warner begann zu zweifeln.
„Wir hatten den ganzen Februar über Frost“, erinnert sich Trainer Leyshon in der kanadischen Zeitung Toronto Star. „Eines Tages konnte Damian beim Stabhochsprung seine Füße nicht mehr spüren, und er sagte zu mir: ‚Ich kann das nicht mehr. Das ist furchtbar; das ist kein Training für eine Goldmedaille.‘ Und ich entgegnete: ‚Wir haben keine Wahl.‘ Ja, es gab einige dunkle Tage.“ – „Er musste sich einfach durchbeißen. Und das tat er“, sagt auch Nielsen. "Aber an manchen Tagen waren wir sauer und deprimiert und frustriert. Denn Damian trainierte dort, und wenn man sich auf Instagram andere Zehnkämpfer anschaute, war Kevin Mayer [Weltrekordhalter aus Frankreich] irgendwo in den Tropen, in der Sonne und im Warmen.“
Familienglück bringt die Wende
Es war schließlich das private Glück, die Warner aus seinem mentalen Loch holte: Im März brachte seine Partnerin Jennifer den kleinen Theodore zur Welt. „Die Verwandlung ist fantastisch. Er ist wirklich in vielerlei Hinsicht gewachsen, und das liegt alles an dem kleinen Theo und Jen. Sie sind einfach perfekt“, meint Trainer Nielsen. Zwei Monate später, beim Hypo-Meeting im österreichischen Mehrkampf-Mekka Götzis, überraschte Warner sich selbst und sein Team mit 8.995 Punkten. „Ich denke, wenn einem jemand das nimmt, was man liebt, oder wenn es Hindernisse gibt, es zu tun, dann ist es umso aufregender, wenn man es endlich tun kann“, reflektierte der Kanadier im Toronto Star seine starke Leistung. „Ich habe ihn noch nie so frei gesehen“, bekräftigte auch Gar Leyshon.
Nicht nur bei der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele musste der inzwischen viertbeste Zehnkämpfer der Geschichte Durchhaltevermögen beweisen. Auch das Warten auf den ersten globalen Titel erforderte viel Geduld. Denn obwohl der damals 22-Jährige bereits in London 2012 mit Platz fünf in die Weltelite vorstieß und seit 2013 sechsmal in Götzis triumphieren konnte – auf der ganz großen Bühne war immer mindestens ein Konkurrent besser.
Aus dem Schatten auf den Thron
Warner, zweimaliger Gewinner der Panamerikanischen Spiele, hatte sich bereits 2016 in Rio (Brasilien) für Olympia-Gold bereit gefühlt. „In Rio 2016 habe ich geglaubt, dass ich die olympische Goldmedaille gewinnen kann“, sagt er gegenüber dem Weltverband World Athletics. „Natürlich war es damals nicht absehbar, aber ich weiß noch, wie ich nach den 1.500 Metern auf dem Boden saß und so enttäuscht war. Ich hatte Bronze, aber das war nicht das, was ich wollte; ich war nicht stolz darauf, Olympia-Bronzemedaillengewinner zu sein.“ Und auch nach dem Rücktritt des damaligen Weltrekordlers Ashton Eaton verpasste der Kanadier das ersehnte Gold stets.
Bei den Weltmeisterschaften 2017 in London (Großbritannien) machte ihm zunächst ein Norovirus wenige Tage vor Beginn des Zehnkampfs einen Strich durch die Rechnung. Warner musste sich isolieren, kämpfte mit Übelkeit und Bauchschmerzen – und mit seiner Motivation. Am Ende belegte er Platz fünf. Zwei Jahre später in Doha (Katar) reichte es mit Knöchelproblemen wie bereits 2013 zu Bronze. Dass Damian Warner sich in Tokio nach vielen internationalen Medaillen und starken Leistungen endlich mit einer globalen Goldmedaille vollendete, kam für sein Trainerteam nicht überraschend: Sowohl Leyshon als auch Nielsen stellten vor den Olympischen Spielen fest, dass ihr Schützling mental in einer besseren Form sei als je zuvor.
Und nachdem er zu Beginn des Jahres wochenlang mit Kälte und Frost hatte zurechtkommen müssen, bewältigte er in Tokio auch die gegenteiligen Bedingungen mit Hitze und extremer Luftfeuchtigkeit problemlos. Gar Leyshon glaubt, dass die Resilienz und das Durchhaltevermögen, das sein Athlet während der Pandemie aufbringen musste, ihm zu der mentalen Stärke verholfen haben, die gefordert war, um olympisches Gold zu gewinnen. Und auch der Athlet sieht den Schlüssel zum Erfolg im Kopf, im Glauben an sich selbst. Zu einer Bilderstrecke von den Olympischen Spielen schreibt Warner bei Instagram etwas, das ihm seine Mutter mitgegeben habe: „Du kannst alles erreichen, was du dir in den Kopf setzt.“
Von der High School zu den Olympischen Spielen
Olympia-Gold – auch der Lohn für jahrelange, harte Arbeit in einem eng vertrauten Umfeld. Denn Gar Leyshon und Dennis Nielsen waren es, die den damaligen Schüler zur Leichtathletik brachten. Die beiden Lehrer an Warners weiterführender Schule trainierten ihn im Basketball und überzeugten das Sporttalent, sich der Leichtathletikgruppe anzuschließen. Leyshon nahm den damals 16-Jährigen und einen weiteren Schüler mit zum Weitsprungtraining. „Ich bin mitgekommen, weil sie ohne mich nicht hingehen wollten“, erzählt er dem Toronto Star, „aber kurz darauf brannte der Weitsprungtrainer mit der Babysitterin seiner Kinder durch und ich war plötzlich Trainer. Es war wie in einem Film.“
Gemeinsam mit Nielsen betreut er Damian Warner seit nunmehr 15 Jahren. Zu Beginn habe niemand von ihnen viel über den Zehnkampf gewusst. „Wir waren sehr optimistisch und hatten viele Ziele, aber niemand von uns wusste, wie wir sie umsetzen sollten“, blickt der heutige 9.000-Punkte-Zehnkämpfer im Gespräch mit World Athletics zurück. Zum Trainerteam gehören mittlerweile auch ein Stabhochsprungtrainer, eine Lauf- und Sprungtrainerin sowie eine Spezialistin fürs Krafttraining. „Es ist verrückt, wenn ich daran denke, dass ich nur ein Einzelner bin, aber ich hatte in meinem ganzen Leben und in meiner ganzen Karriere so viele Menschen, die alles dafür tun, Träume wie diesen wahr werden zu lassen“, sagt Warner.
Dass es ausgerechnet seine beiden ehemaligen Lehrer waren, die ihm halfen, sich zum König der Athleten zu krönen, empfindet er als „unglaubliche Geschichte und besonderen Moment“. „Ich kenne nicht die Geschichte aller Olympioniken, aber es gibt sicherlich nicht viele, die von ihren Sport- und Englischlehrern trainiert werden“, meint der Olympiasieger.
Kameradschaftliches Miteinander
Nach Tokio begleiten konnte den Athleten allerdings aufgrund der Corona-Pandemie nur Leyshon. Warner fühlte sich dennoch bei den „härtesten Olympischen Spielen aller Zeiten“ nicht alleine. „Es schien vielleicht so, als wären nicht viele Leute im Stadion, aber es waren welche da“, sagt Warner dem Leichtathletik-Weltverband. „Sie waren nicht im Stadion, aber sie waren zu Hause. Wenn ich beim Weitsprung, Stabhochsprung und Hochsprung war oder wenn ich um einen Applaus gebeten habe, haben 100 Leute zu Hause für mich geklatscht. Es gab keinen Moment in diesem Zehnkampf, in dem ich das Gefühl hatte, allein zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass sie mit mir auf der Tribüne saßen. Diese Leute waren es, die das möglich gemacht haben.“
Auch die Zehnkämpfer untereinander unterstützen sich. Warner erinnert sich an einen besonderen Moment der Kameradschaft kurz vor seinem größten Triumph: „Vor den 1.500 Metern kam Kevin [Mayer] zu mir und sagte: ‚Das [der Olympiasieg] ist für dich, ich bin so stolz auf dich.‘ Diese Momente sind so besonders und zeigen, welche Klasse diese Athleten haben.“ Dabei gehört es für Warner selbst ebenfalls dazu, andere Zehnkämpfer zu ermutigen und auf ihrem Weg an die Spitze zu begleiten, wie etwa den Olympia-Dritten aus Australien Ashley Moloney oder seinen Landsmann Pierce Lepage, der in Tokio Platz fünf belegte.
Wunsch: Größeres Teilnehmerfeld auf großer Bühne
„Es waren andere Zehnkämpfer wie Ashton [Eaton], die mich inspiriert haben. Es sind all diese Jungs, die mich geschaffen haben. Es ist an der Zeit, dass ich anfange, mich selbst zu erschaffen, um hoffentlich eine Inspiration für Leute wie Pierce [LePage] und Ashley [Moloney] zu sein“, meint er. Gar Leyshon findet, dass sein Athlet jüngeren Sportlern Vieles mit auf den Weg geben kann. „Er ist bescheiden, loyal, fleißig, höflich, familienorientiert und respektvoll gegenüber anderen“, beschreibt er ihn dem kanadischen Verband gegenüber.
Warner unterstützt die Forderung unter anderem des schwedischen Zehnkämpfers Fredrik Samuelsson, künftig mehr als 24 Mehrkämpfer zu internationalen Meisterschaften zuzulassen. Wäre die Teilnehmerzahl bereits 2012 auf 24 beschränkt worden, hätte er selbst sich nicht für seine ersten Olympischen Spiele qualifiziert. „Das nimmt den jungen Sportlern die Möglichkeit, sich auf der Weltbühne einen Namen zu machen“, erklärt der heutige Olympiasieger der Zeitung The London Free Press. „Athleten werden wegen Verletzungen oder ohne gültiges Ergebnis ausfallen – und plötzlich sind weniger als 20 Teilnehmer im Feld. Im Interesse des Sports müssen sie das in Zukunft berücksichtigen.“
Olympische Spiele 2021