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Olympic Moments 2021: Yulimar Rojas – Ein Sprung für die Geschichtsbücher

Zahlreiche internationale Leichtathletik-Asse haben bei den Olympischen Spielen in Tokio (Japan) für Gänsehautmomente gesorgt. Wir blicken zurück auf herausragende Leistungen, erzählen außergewöhnliche Geschichten und stellen beeindruckende Persönlichkeiten vor. Heute: Venezuelas erste Olympiasiegerin Yulimar Rojas und ihr Weg zum Dreisprung-Weltrekord – gepflastert mit vielen Hindernissen und maßgeblich beeinflusst von einem Facebook-Algorithmus, der ihr Leben veränderte.
Svenja Sapper

Auf den Höhepunkt des Abends ließ Yulimar Rojas die Fans, ihren Trainer und sich selbst am 1. August lange warten. Gleich im ersten Durchgang des Dreisprung-Finals der Olympischen Spiele in Tokio war Venezuelas Top-Favoritin auf Gold olympischen Rekord gesprungen – 15,41 Meter. Nur sie selbst und Weltrekordlerin Inessa Kravets aus der Ukraine waren je weiter geflogen. Der Kampf um Gold war in einem Feld, in dem vor Beginn des Wettkampfes außer Rojas nur die Olympiasiegerin von 2016 Caterine Ibargüen (Kolumbien) je die 15-Meter-Marke übertroffen hatte, vorzeitig entschieden. Doch die zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alte Ausnahmeathletin wollte mehr.

„Ich wollte den Weltrekord; ich wusste, dass ich die Weite in den Beinen hatte“, zitierte später die britische Zeitung „The Guardian“ die haushohe Favoritin. Und dass dem so war, deutete sich bereits lange vor dem letzten Versuch an: Rojas‘ ungültiger dritter Sprung übertraf die Weltrekordmarke bereits deutlich. In Runde vier legte sie 15,25 Meter nach. Wenige Zentimeter, die sie am Brett übergetreten war, kosteten die zweimalige Weltmeisterin im vorletzten Versuch die ersehnte Rekordmarke. Doch dann kam der letzte Sprung. Und Rojas flog.

Hop, Step, Weltrekord

„Ich konnte das 'Wow' der Menge und Anas [Ana Peleteiro, Bronzemedaillengewinnerin aus Spanien] Schreie hören – ich musste nicht hinsehen, denn mein Kopf, mein Herz und mein Körper wussten es bereits. Mein Trainer schrie, sprang und jubelte. Es ist unglaublich!“, sagte die frisch gekürte Olympiasiegerin nach dem Wettkampf. „Dieses Finale wird mir für den Rest meines Lebens in Erinnerung bleiben, weil ein olympischer Rekord und ein Weltrekord gebrochen wurden und ich dabei war. Es ist das beste Geschenk, das ich je bekommen konnte“, resümierte Rojas‘ Trainingspartnerin Peleteiro bei olympics.com. Bis auf 15,67 Meter war die Venezolanerin geflogen. Sie löschte damit eine Rekordmarke aus, die älter war als sie selbst.

Wenige Monate vor Rojas‘ Geburt hatte Inessa Kravets am 10. August 1995 beim WM-Sieg in Göteborg mit 15,50 Metern die Weite erzielt, an der sich die Konkurrenz mehr als ein Vierteljahrhundert messen würde. Und jene Athletin, die sie im Olympiastadion von Tokio übertraf, schrieb mit ihrem Sprung gleich in mehrfacher Hinsicht Geschichte.

Keine Frau aus Venezuela hatte bis zu diesem Zeitpunkt olympisches Gold gewinnen können. Außerdem war es das erste olympische Leichtathletik-Gold für den südamerikanischen Staat. Eine Pionierrolle, die Yulimar Rojas sehr ernst nimmt. „Ich glaube, ich öffne Türen – und zwar nicht nur für mich selbst. Ich öffne auch Türen für Menschen, die Großes erreichen und Geschichte für mein Land schreiben wollen“, erklärte die jüngste Dreisprung-Weltmeisterin der Geschichte.

Kämpferherz

„Ich kämpfe, damit der Sport in meinem Land sich weiterentwickelt, damit die Kinder mitmachen und die neue Generation sagt, dass sie so sein will wie Yulimar Rojas“, sagte die Welt-Leichtathletin des Jahres 2020 gegenüber dem Weltverband World Athletics. „Das ist mein Job. Ich werde immer versuchen, den Menschen in Venezuela Freude zu bereiten.“ Sie sei wie Godzilla, beschreibt Ana Peleteiro das Kämpferherz ihrer Trainingspartnerin in dem spanischen Online-Portal El Diario. „Ohne Yulimar in Spanien wäre ich nicht dort, wo ich bin.“

Rojas‘ eigene Geschichte – sie erzählt von Mut, Entschlossenheit, Kampfgeist und dem Glauben an sich selbst. Sie handelt von dem Traum, den weltweit viele Menschen mit der Spitzenathletin teilen: es aus bescheidenen Verhältnissen bis an die Spitze zu schaffen. Yulimar Rojas ist das gelungen. Geboren in der Hauptstadt Caracas, wuchs sie mit sechs Geschwistern in einer Welt der Unsicherheiten auf, wie die vielseitig talentierte Sportlerin dem Olympic Channel berichtete. Ihre Eltern waren arm, und der kleine Hof in Anzoátegui, auf dem die Familie lebte, wurde nach und nach vom Regen zerstört.

Früh entdeckte Yulimar Rojas den Sport für sich, wie sie im Video „For The Record“ von World Athletics verriet: „Ich wusste, dass ich Sportlerin werden konnte, aber die Möglichkeiten waren begrenzt.“ Doch davon ließ sie sich nicht entmutigen. „Dank dieser Umstände bin ich eine andere Yulimar Rojas. Die Widrigkeiten haben mir geholfen, eine bessere Version meiner selbst zu werden, an mich und meine Fähigkeiten zu glauben“, sagte sie nach ihrem Olympiasieg bei olympics.com. Und beschrieb sich selbst mit den Worten: „Vor allem bin ich eine Kämpferin.“

Sportliche Allrounderin

Eine Kämpferin mit außerordentlich viel sportlichem Talent. Die erste sportliche Liebe der 13-jährigen Yulimar war Volleyball. Als sie sah, wie sich die venezolanischen Volleyballteams der Männer und Frauen für die Olympischen Spiele 2008 in Peking (China) qualifizierten, fühlte sie „einen emotionalen Impuls, so zu sein wie sie“, wie die Athletin dem Weltverband World Athletics erzählte. Doch ihre Ambitionen, Volleyballerin zu werden, scheiterten daran, dass es in Anzoátegui kein Team und keine Trainer gab. Ähnlich verhielt es sich mit Basketball – der nächsten Sportart, für die sich der Teenager begeistern konnte.

Ihr Stiefvater, ein früherer Boxer, ermutigte Yulimar Rojas daraufhin, es mit der Leichtathletik zu probieren. Zunächst übte sie sich im Kugelstoßen, später zeigte sich ihr Talent vor allem im Hochsprung: 2011 wurde die erst 15-Jährige südamerikanische Juniorenmeisterin. 2014 stellte „Yuli“, wie ihre Familie und Freunde sie nennen, mit 1,87 Metern ihre persönliche Bestleistung auf – zu diesem Zeitpunkt U20-Südamerikarekord. Doch ihr Interesse für eine neue Disziplin war längst geweckt. In ihrem ersten Dreisprung-Wettkampf im April 2014 erzielte sie auf Anhieb 13,57 Meter.

Schicksalsmoment: Trainerwechsel

Zum Jahresende 2015 ereignete sich ein Zufall, der das Leben der Yulimar Rojas maßgeblich verändern sollte. Ein Facebook-Algorithmus war es, der den Ausschlag dazu gab: Das Soziale Netzwerk schlug der 20-jährigen Nachwuchsathletin Weitsprung-Legende Ivan Pedroso als Freund vor. Und die Venezolanerin kontaktierte den viermaligen Weltmeister aus Kuba. „Ich habe ihm gesagt, wie sehr ich ihn bewundere und dass ich davon träume, bei ihm trainieren zu können“, blickt Rojas im Gespräch mit World Athletics auf die erste Kontaktaufnahme zurück.

Pedroso hatte die vielversprechende Karriere der jungen Athletin bereits verfolgt und hielt sie für sehr talentiert. Und so packte Yulimar Rojas mit gerade 20 Jahren ihre Koffer, verließ ihre Heimat, Jugendtrainer Jesus Velazquez und folgte ihrem Idol nach Spanien, um sich dessen Trainingsgruppe anzuschließen.

Ab diesem Moment kannte die sportliche Entwicklung der jungen Sportlerin nur noch eine Richtung: steil bergauf, an die Spitze. So steinig der Weg in den Leistungssport für Rojas gewesen war, so ging es für sie ab dem Trainerwechsel stetig voran. „Was ich von Ivan gelernt habe, ist die Kraft, wieder aufzustehen“, sagt sie. „Und die Bescheidenheit, das einfache Glück des Trainings und wie man mit Problemen umgeht.“ Der Weltrekord – für den Coach „der glücklichste Tag in meinem Leben als Trainer. Wir wussten, dass dies der richtige Moment war, der ideale Ort, die ideale Medaille, und so war es dann auch“, sagte Pedroso dem kubanischen Portal Swing Completo.

Zwischen Südamerika und Europa

In ihrem Trainer hat die heute 26-Jährige fernab der Heimat ein Familienmitglied gefunden. „Was auch immer passiert, ich weiß, dass Ivan für mich da sein wird. Er ist ein Trainer für mich, aber nicht nur das, er ist wie eine Vaterfigur, und wir wissen, dass wir es zusammen mit unserer Liebe zum Sport sehr weit bringen können“, resümiert sie dem Weltverband gegenüber. Gleichzeitig verschweigt die Weltrekordlerin nicht, wie sehr ihr die Entfernung von ihrer Familie zu schaffen macht.

„Es ist schwierig, weit weg von meiner Familie zu sein. Ich brauche immer eine Umarmung von meiner Mutter, den Rat meines Vaters und die Wärme meiner Familie, die Sonne und die Strände meines Landes. Aber wenn man fokussiert ist und ein Ziel hat, gibt einem das Kraft“, gesteht sie. „Wenn man Yuli sieht, die aus ärmlichen Verhältnissen kommt und ihre Familie seit Dezember nicht mehr gesehen hat, dann flippt man aus. Sie hat dieses Gold mehr als jede andere verdient“, sagt Ana Peleteiro in der spanischen Zeitung 20 Minutos.

Mittlerweile profitiert ihre Familie vom sportlichen Erfolg. Zu Beginn ihrer Karriere hatte Rojas ihrer Mutter versprochen, der Familie eines Tages ein kleines Haus zu verschaffen. Natürlich hielt sie Wort. Eine neue sportliche wie private Heimat hat Rojas selbst in Spanien gefunden. Die Dreispringerin trainiert in Guadalajara und startet für den FC Barcelona. Der ersten Olympiasiegerin des Vereins wurde nach ihrem Triumph von Tokio eine besondere Ehre zuteil: Sie durfte das Spiel des Fußball-Traditionsvereins im Stadion Camp Nou gegen Getafe symbolisch anstoßen.

Geradewegs an die Spitze

Der Schritt nach Europa machte sich bereits wenige Monate nach dem Aufbruch Ende 2015 bezahlt: Bei der Hallen-WM 2016 holte Yulimar Rojas Gold. Wenige Monate später folgte ein Satz auf 15,02 Meter, mit dem sie sich als jüngste Dreispringerin aller Zeiten in die Liste der 15-Meter-Springerinnen eintrug. Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro (Brasilien) folgte der Wettkampf, den die Athletin selbst als Wegbereiter für ihre weiteren Erfolg sieht: Sie gewann Silber hinter Caterine Ibergüen. Venezuelas erst zweite Leichtathletik-Medaille bei Olympischen Spielen. Die erste hatte 64 Jahre zuvor in Helsinki mit Arnoldo Devonish (Bronze mit 15,52 m) ebenfalls ein Dreispringer gewonnen.

„Venezuela ist kein Land, das viele Medaillen gewinnen kann, so wie die USA“, erklärt sie gegenüber World Athletics. „Aber für die wenigen, die wir haben, halten wir das Gefühl in unseren Herzen fest. Von diesem Moment an wusste ich, dass ich eine Heldin für mein Land sein wollte. […] Es war ein Traum, eine olympische Medaille auf meiner Brust zu tragen – ein Tag, den ich nie vergessen werde. Aber es gab mir ein Ziel: 2020 in Tokio die venezolanische Nationalhymne zu hören.“

Wonder Woman

Ein Plan, den die 1,92 Meter große Athletin – mit einem Jahr Verspätung aufgrund der Olympia-Verschiebung – in die Tat umgesetzt hat. Auf zwei WM-Titel 2017 und 2019 sowie den Hallen-Weltrekord (15,43 m), den sie im Februar 2020 erzielte, folgte nun die Krönung ihrer Karriere. Rojas ist nunmehr die einzige Venezolanerin, die mehr als eine olympische Medaille gewonnen hat. Ihre Vorbildfunktion, die sie als einzige Weltklasse-Leichtathletin ihres Landes neben Stabhochspringerin Robeilys Peinado hat, nimmt Rojas nicht nur in sportlicher Hinsicht ernst.

Seit Jahren setzt sich die Venezolanerin, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennt, für die Rechte der LGBT-Community ein, obwohl gleichgeschlechtliche Beziehungen vom Staat Venezuela nicht anerkannt werden. „Ich springe auch dafür, dass die Liebe und das Leben respektiert werden, dass der Wunsch zu lieben und geliebt zu werden respektiert wird, und dass die Menschenrechte jeden Tag geschätzt werden“, wird die Olympiasiegerin von olympics.com zitiert.

Eigene Vorbilder hat sie bereits als Kind in der Comicwelt gefunden: „Mein Favorit ist Batman. Ich mag ihn wegen seiner Persönlichkeit und allem, was er tut. Und Wonder Woman, wegen der Stärke, des Adrenalins, der Macht, die sie hat, und was sie tut, um die Welt zu retten. In dieser Hinsicht bin ich ein bisschen wie ein Kind. Ich liebe Superhelden und ich hoffe, dass ich in meinem Land und in der Welt als Superheldin angesehen werde.“

Die nächste magische Marke: 16 Meter

Eine Superheldin möchte Yulimar Rojas nicht nur im Drei-, sondern auch im Weitsprung werden. Mit windunterstützten 7,27 Metern deutete sie in diese Disziplin bereits ihr Potenzial an – und traut sich ähnliche Weiten auch bei regulären Bedingungen zu. Mit einer Körpergröße von 1,92 Metern, ihren langen Beinen und ihrer Explosivität ist sie prädestiniert für weite Sprünge.

„Springen liegt mir im Blut, ich kann weiter als 7,30 Meter springen. Ich muss technisch besser werden und weiter für meine Ziele kämpfen“, gibt sich die Athletin gegenüber olympics.com kämpferisch. Und auch im Dreisprung kennt die Weltrekordlerin keine Grenzen. Ihr nächstes Ziel: Als erste Athletin die 16-Meter-Marke überspringen. „In den Köpfen der Menschen scheint das undenkbar“, meint sie. „Aber ich glaube, ich habe die Fähigkeit, das zu schaffen.“

Mehr:

Video: Der Weltrekord-Sprung von Yulimar Rojas

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