| Neue Meisterin

Anjuli Knäsche – Zweite Karriere befreit von Zwängen

Ein Jahr mit vielen Leichtathletik-Höhepunkten neigt sich seinem Ende entgegen. Auf nationaler Ebene waren die Deutschen Meisterschaften in Berlin das Highlight des Sommers, bei denen acht Athletinnen und Athleten erstmals in ihrer Karriere ganz oben standen. Wir stellen sie vor. Heute: Stabhochspringerin Anjuli Knäsche (LG Leinfelden-Echterdingen).
Jan-Henner Reitze

Anjuli Knäsche
LG Leinfelden-Echterdingen

Bestleistung:
Stabhochsprung: 4,55 m (2016; 2022)

Erfolge:
Sechste Universiade 2017
Siebte U23-EM 2015
Vierte U20-WM 2012
Sechste U20-EM 2011
Deutsche Meisterin 2022

Der Stabhochsprung stand seit ihrer Jugend im Mittelpunkt des Lebens von Anjuli Knäsche. Der große Durchbruch blieb aber trotz aller Bemühungen aus. Statt selbstbestimmt durch den Alltag zu gehen, übernahm der Sport bei ihr schleichend mehr und mehr die Kontrolle. Ein Beispiel: Stand Technik auf dem Trainingsplan, absolvierte die gebürtige Schleswig-Holsteinerin diese Einheit, obwohl sie merkte, dass sie die Anlage mit mehr statt weniger Unsicherheit verlassen würde. Der Sport war schließlich auch ihr Job. Mangels Ablenkung, da sie an einer Fernuni studierte, kreisten negative Gedanken lange durch den Kopf. Innerlich leer und ohne einen Einsatz in der A-Nationalmannschaft erklärte die Athletin ihre Karriere im Januar 2019 im Alter von 25 Jahren für beendet.

Es folgte eine Findungsphase: Reisen durch die USA, Kellnern auf Sylt, um Geld zu verdienen, Praktikum bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, letztlich verworfene Ambitionen, auf den Bachelor in Wirtschaftswissenschaften einen Master draufzusetzen. „Das war finanziell und emotional hart, auch weil mir mein Umfeld langsam aber sicher nicht mehr zugetraut hat, irgendetwas zu Ende zu bringen.“

Leidenschaft und Motivation keimen wieder auf

Schließlich kam der Wunsch auf, in den Sport zurückzukehren, auf beruflicher Ebene. Es sollte nicht unbedingt die Leichtathletik sein, Überlegungen gab es auch in Richtung Athletiktraining im Tennis oder für Mannschaftssportarten. Durch ihre Vorgeschichte als Leistungssportlerin klappte es dann aber für Anjuli Knäsche doch in ihrer einstigen Sportart mit einer Stelle als Trainerin verbunden, mit dem Schulsport. bei der LG Leinfelden-Echterdingen. „Die Stellenausschreibung hatte ich auf leichtathletik.de gelesen.“

Die 29-Jährige vermied in ihrem neuen Job anfangs das Thema Stabhochsprung. „Ich hatte nicht den Drang, etwas vorzumachen.“ Sie fand dann aber doch zurück. So unbemerkt Motivation und Leidenschaft für ihre Disziplin verloren gegangen waren, so unbewusst keimte sie wieder auf.

Als Trainerin hat Anjuli Knäsche mittlerweile sogar ein Stabhochsprung-Projekt ins Leben gerufen, in dem sie über ihren neuen Verein hinaus neue Talente sucht. Die wiederholte Frage: „Willst du es nicht selbst mal wieder versuchen?“ beantwortete sie Ende des vergangenen Jahres mit „Ja“ und übersprang ohne Saisonvorbereitung schon im Winter 4,30 Meter.

Im Sommer stellte die Rückkehrerin dann sogar bei den Deutschen Meisterschaften in Berlin ihre Bestleistung aus dem Jahr 2016 von 4,55 Metern ein, holte damit ihren ersten nationalen Titel in der Frauenklasse und qualifizierte sich über das Rankingsystem für ihre erste EM. Eine Reihe von Umwegen hat also zu den bisher größten Erfolgen geführt. Nicht ausgeschlossen, dass weitere folgen.

Vater weckt Interesse für die Leichtathletik

Ihre sportliche Karriere begann Anjuli Knäsche in ihrer Kindheit in ihrer Heimat Schleswig-Holstein in Raisdorf bei Kiel. Dort lebte sie bei ihrem Vater, der auch ihr erster Trainer in der Leichtathletik beim Raisdorfer TSV war. „Als ich elf war, bin ich mit ihm zum Jedermann-Zehnkampf-Training in Kiel gefahren. Schon vorher haben wir Stabhochsprungübungen mit Tauen gemacht.“ In der Jedermann-Gruppe arbeitete sie weiter an ihrer späteren Spezialdisziplin, betrieb aber auch noch andere Disziplinen. Glatte 2,00 Meter waren die Bestmarke im Jahr 2005.

Mit dem Aufstieg in die Altersklasse W15 und einer Stabhochsprung-PB von inzwischen 3,15 Metern wechselte die Nachwuchsathletin 2008 zur SG TSV Kronshagen/Kieler TB, wo sie nicht mehr allein in ihrem Jahrgang war. In der Staffel klappte es auch gleich mit der ersten Teilnahme bei der Jugend-DM in Berlin.

Das Stabhochsprung-Training übernahm die ehemalige Spitzenathletin und Sechste der Hallen-EM des Jahres 2000 Sabine Schulte (PB: 4,40 m), die eine Stelle als Landestrainerin in Schleswig-Holstein antrat. Die Folge waren deutliche Steigerungen der Bestleistung. 2009 bei der Jugend-DM in Rhede belegte Anjuli Knäsche mit 3,55 Metern Rang zwölf in der Altersklasse U18. Im Jahr 2010 folgte in Regensburg bei der U23-DM mit 3,70 Metern Rang neun als U18-Athletin und die Steigerung der Bestleistung bis auf 3,90 Meter.   

Internationale Spitze in der U20

In der U20 gelangen die ersten Sprünge über Höhen von vier Meter und mehr, damit der Anschluss an die nationale und internationale Spitze ihrer Altersklasse. Die U20-EM in Tallinn (Estland) 2011 brachte mit 4,10 Metern Rang sechs, die U20-WM in Barcelona (Spanien) 2012 mit 4,15 Metern Platz vier. In ihren beiden U20-Jahren gewann Anjuli Knäsche im Freien in Jena und Mönchengladbach auch jeweils den deutschen Jugendmeistertitel und steigerte sich bis auf 4,31 Meter.

Bemerkenswert dabei war, dass die Stabhochspringerin damals regelmäßig lange Fahrtwege zum Techniktraining bei Sabine Schulte in Hamburg in Kauf nahm, weil sie zu ihrer Mutter nach Westerland auf die Insel Sylt umgezogen war. Andere Trainingseinheiten absolvierte sie in dieser Zeit wieder allein auf der Aschenbahn oder im Winter auch mal in der Mehrzweckhalle zwischen Volleyballern und Badminton-Spielern.

Versuche im Leistungssport anzukommen

Mit den Erfolgen im Rücken war klar, dass die Weichen nach dem Schulabschluss in Richtung Leistungssport gestellt werden sollten. Anjuli Knäsche zog in eine eigene Wohnung nach Kiel und nahm dort ein Präsenzstudium in Ökotrophologie auf, erkannte aber, dass sie mit dieser Konstellation nicht zurecht kam. So wechselte sie 2014 den Trainingsstandort und ging nach Potsdam in die Gruppe des heutigen Bundestrainers Stefan Ritter. Parallel startete ein Fernstudium in Wirtschaftswissenschaften.

Mit der Leistung ging es bergauf. Im Wettkampf gingen regelmäßig Höhen im Bereich von 4,40 Metern in die Ergebnislisten ein. 2015 gewann die damalige U23-Athletin in dieser Altersklasse den DM-Titel und belegte Rang sieben bei der U23-EM in Tallinn. 2016 blieb die Latte in Paderborn bei 4,55 Metern liegen.

Auch wegen starker nationaler Konkurrenz um Athletinnen wie Silke Spiegelburg, Martina Strutz oder Lisa Ryzih reichte es in diesen Jahren aber nie für die Qualifikation für ein internationales Großereignis in der Frauenklasse. „Ich habe es nicht geschafft, mich richtig wohl zu fühlen.“ Der Sport wurde zur Belastung. „Im Nachhinein ist mir klar, dass mir damals der Ausgleich fehlte. Ich hatte nichts anderes als den Sport, und wenn es da nicht lief, war halt blöd. Es ging so weit, dass ich nicht das Gefühl hatte, dass sich die Erde morgen weiterdreht, wenn das jetzt nicht klappt.“

Verpasste Qualifikation für die Heim-EM in Berlin und Karriere-Ende   

Endgültig der Stecker gezogen wurde im Jahr 2018, als einige der starken Gegnerinnen der Vorjahre nicht am Start waren. Entsprechend groß war die Hoffnung auf die Teilnahme an der Heim-EM in Berlin. Aber auch diese wurde enttäuscht. Knapp reichte es nur zum Platz als Ersatzfrau.

„Damit hatte ich innerlich mit dem Leistungssport abgeschlossen“, erinnert sich Anjuli Knäsche. Sie wollte aber unbedingt noch eine langjährige Idee in die Tat umsetzen und ging in die USA, um im Bundesstaat Washington in der Gruppe des Weltmeisters von 2007 und Sechs-Meter-Springers Brad Walker mitzutrainieren, unter anderem gemeinsam mit der aktuellen Weltmeisterin und Olympiasiegerin Katie Nageotte.

„Brad hat mich immer wieder mit der Frage gelöchert, was meine Motivation für den Stabhochsprung ist, beziehungsweise warum ich mir das antue. Da ich darauf auch nach Wochen keine stimmige Antwort gefunden hatte, beschloss ich, aufzuhören. Das war eine große Erleichterung.“ Die verbliebene eingeplante Zeit in den USA nutzte Anjuli Knäsche, um dort mit dem Auto zu reisen.

Neue Aufgabe, Vertrauen und Entfaltungsspielraum in Leinfelden

Zurück in Deutschland dauerte es dann zwei Jahre bis zur Rückkehr in den Sport als Trainerin, verbunden mit dem nächsten Umzug nach Baden-Württemberg. „Bei der Auswahl konnte ich unter anderem mit meinen Erfahrungen überzeugen, was ich mir als Athletin von einem Verein und Trainern gewünscht hätte.“ Diese Perspektive war ganz im Sinne der Leitung der LG Leinfelden-Echterdingen, wo Anjuli Knäsche nicht nur als Cheftrainerin für alle Altersklassen und Leistungsniveaus zuständig ist, sondern viel mitgestalten kann.

„Besonderen Spaß gefunden habe ich an der Arbeit am Stabhochsprung mit ganz jungen Athletinnen und Athleten der Altersklasse U14. Ihre Reaktionen auf Umstände und Situationen erweitern auch meine Sichtweise und bringen mir neue Erkenntnisse.“

Dass zur Tätigkeit inzwischen auch dazugehört, Nachwuchs für den Stabhochsprung zu gewinnen, war mehr eine logische Entwicklung als geplant. „Wenn ich versuchen würde, einen Stützpunkt für Hammerwurf aufzubauen, wäre das schwierig. Mit Stabhochsprung kenne ich mich aus.“

Da ihre Anstellung auch Schulsport beinhaltet, kam es auch hier zur Verknüpfung mit ihrer sportlichen Vergangenheit. „Ich habe in Schulen in der Region eine Doppelstunde im Stabhochsprung gegeben, auch als Sichtung.“ Außerhalb ihrer üblichen Arbeitszeit bietet die 29-Jährige ein Stabhochsprung-Zusatztraining an, für das ihr Verein Raum und Material stellt, wo aber jeder mitmachen kann, unabhängig von der Vereinszugehörigkeit.

Plötzlich zurück im Wettkampf und doch noch DM-Titel und Heim-EM

Genau wie die Annäherung an den Stabhochsprung als Trainerin, war auch das Comeback als Athletin ein Prozess. „Lange hat es nicht gekribbelt.“ Ohne überzeugt zu sein, dass es wieder regelmäßig dazu kommen würde, versuchte es Anjuli Knäsche Anfang 2022 dann aber doch mal wieder und wurde überrascht, wieviel „Athletin“ noch in ihr und ihrem Körper steckte. Der Stab, der zum Ende der Leistungssportkarriere so schwer geworden war, hatte plötzlich wieder etwas zu geben. Bei einem Vereinswettkampf Mitte Januar schwang sie sich über 4,07 Meter.

Nachgeordnet, wenn alle beruflichen Verpflichtungen erledigt waren, ging das eigene Training wieder los, ohne Trainingsplan und Zwang, dafür mit Unterstützung des baden-württembergischen Landestrainers Stephan Munz und Technikeinheiten bei ihm in Stuttgart. Das führte in der Hallensaison schon zu Platz zwei bei der Hallen-DM in Leipzig (4,30 m), hier noch aus verkürztem Anlauf.

Weiterhin mit Training, je nachdem, wie es die sonstigen Termine zuließen, ging es auch Richtung Sommer, zwischenzeitlich ausgebremst von einem Muskelfaserriss in der Wade und damit verbundenen Achillessehnenschmerzen. Trotzdem war mit dem Start in die Freiluftsaison Ende Mai das frühere Niveau wieder erreicht, inklusive Einstellung der Bestleistung (4,55 m) beim ersten DM-Titel in Berlin. Aber mit dem Unterschied, dass diese Leistung diesmal zur Teilnahme bei der Heim-EM reichte. „Das war eine super coole Sache.“

Herangehensweise bleibt gleich, Training bekommt mehr Struktur

Überlegungen, den Sport wieder an die erste Stelle zu setzen, gibt es keine. Die eigenen Einheiten und die Vorbereitung auf Wettkämpfe im kommenden Jahr soll allerdings etwas geplanter ablaufen.

„Aber wenn ich mal einen Tag habe, an dem ich merke: Heute macht Training keinen Sinn, bin ich offen dafür, es zu lassen“, so Anjuli Knäsche. „Das ist der Unterschied zu früher. Einerseits ist Stabhochsprung nicht mehr mein Job. Anderseits habe ich keine Sorge mehr, durch eine verpasste Einheit etwas zu verlieren. Ich bin nach einer so langen Pause schnell wieder so hoch gesprungen wie vorher. Damit habe ich mir bewiesen: So viel hängt nicht von einer Einheit ab. Diese Gelassenheit lässt mich häufig bessere Entscheidungen treffen.“

Video: Anjuli Knäsche aus der Stabhochsprung-Rente zum Titel
Video-Interview: Anjuli Knäsche: "Nur springen, wenn es Spaß macht"

Das sagt Bundestrainer Stefan Ritter:

Schon bei ihrer Rückkehr in der Hallensaison hat Anjuli einen sehr guten Eindruck gemacht. Im Sommer hat sie an ihr früheres Niveau angeknüpft. Bei den Deutschen Meisterschaften hat sie angedeutet, dass es auch noch ein Stück höher gehen kann. Ihr Comeback ist für den Stabhochsprung der Frauen in Deutschland eine tolle Sache, wir hängen dem internationalen Niveau hinterher. Mit Höhen im Bereich von 4,55 Metern hat man eine Chance, sich über das World Ranking für internationale Starts zu qualifizieren. Das hat Anjuli mit der EM geschafft. Dort wollen wir hin.

Anjuli ist schon immer eine sehr athletische Springerin gewesen. Mittlerweile springt sie dazu mit einer neuen Lockerheit, früher war sie verbissen und gejagt von dem Gedanken, erfolgreich sein zu müssen. Jetzt geht sie mit mehr Gelassenheit und Leichtigkeit in die Wettkämpfe. Damit ist sie erfolgreich.

Trotz ihrer Vollzeitstelle ist Anjuli so gut organisiert, dass sie leistungssportlich trainiert. Neben Stephan Munz tauscht sie sich auch mit anderen Trainern aus und ist immer offen für Austausch und holt sich neue Ideen. Das ist eine gute Ausgangssituation, um ihre Bestleistung zu steigern. Gelingt es, in diesem Bereich ein stabiles Niveau zu erreichen, sind eine WM- und Olympiateilnahme machbar.

Teilen
#TrueAthletes – TrueTalk

Hier finden Sie alle Folgen des Podcasts des Deutschen Leichtathletik-Verbandes!

Zum Podcast
Jetzt Downloaden
DM-Tickets 2024