| Interview

Dagmar Freitag: "Null-Doping-Toleranz wird zur Farce"

Das Internationale Olympische Komitee wird über die Folgen der Entscheidung beraten, Russland nicht komplett von den Rio-Spielen auszuschließen. Die Sportausschuss-Vorsitzende des Bundestages, Dagmar Freitag, kritisiert das IOC in einem dpa-Interview.
dpa/jhr

Das Internationale Olympische Komitee hat Russland nicht komplett von den Rio-Spielen ausgeschlossen? Ist das eine vertane Chance von IOC-Präsident Thomas Bach, ein mutiges Zeichen zu setzen?

Dagmar Freitag:

Meines Erachtens wurde eine fast einzigartige Chance vertan, der immer wieder proklamierten Null-Toleranz-Politik des IOC gegen Doping die dringend notwendige Glaubwürdigkeit zu verleihen. Im Gegenteil - es sind neue Zweifel gesät worden, denn die Entscheidung ist gegen die erklärte Erwartung der WADA, gegen die Empfehlung von 14 nationalen Anti-Doping-Einrichtungen, gegen Erwartungen von Athleten und vielen Spitzenverbänden gefällt worden.

Das IOC will russische Athleten zulassen, die nachweislich außerhalb des Anti-Doping-Systems ihres Landes kontrolliert wurden. Die internationalen Verbände sollen das prüfen. Eine salomonische Entscheidung, um dem Einzelnen gerecht zu werden?

Dagmar Freitag:

Ich kann nicht sehen, wie das in der Kürze der Zeit bis zur Eröffnung der Rio-Spiele noch glaubhaft und verantwortungsvoll geschehen soll. Wir werden Entscheidungen nach völlig unterschiedlichen Maßstäben und Kriterien bekommen; auch das schafft Ungerechtigkeiten. Und ich bin schon mehr als bestürzt, wie schnell die ersten Weltverbände sämtliche nominierten Athleten aus Russland durchgewunken haben. Ich habe dann doch große Zweifel, dass da überhaupt eine verantwortungsvolle Prüfung stattfindet.

Russische Sportler, die schon wegen Dopings erwischt wurden, dürfen grundsätzlich nicht an den Sommerspielen teilnehmen. Ist das rechtens, wenn dagegen ein Ex-Doper wie der US-Sprinter Justin Gatlin mitmachen darf?

Dagmar Freitag:

Das ist ein fatales Signal, und es drängt sich nicht nur mir der Verdacht auf, dass es nur darum geht, Whistleblowerin Yuliya Stepanova von der Teilnahme auszuschließen. Das allerdings wäre angesichts ihrer Verdienste um die Aufdeckung des russischen Staatsdopings geradezu zynisch, wenn man auf der anderen Seite Mehrfachdoper wie Justlin Gatlin wie selbstverständlich teilnehmen lässt. Die so häufig zitierte Null-Toleranz gegenüber Doping wird einmal mehr zur Farce.

Es werden russische Athleten unter russischer Fahne starten. Wie werden Sie das betrachten?

Dagmar Freitag:

Natürlich mit großer Skepsis. Ich frage mich, wie sich Athleten bei Siegerehrungen fühlen werden, bei denen sie hinter russischen Athleten vielleicht Platz vier oder fünf errungen haben.

Haben wir mit Russland in Sachen Doping nur die Spitze des Eisberges gesehen?

Dagmar Freitag:

Ja, das glaube ich schon. Das ist zwar ein perfektioniertes System, auf das wir mit Abscheu blicken, aber das ist längst nicht alles. Wer davon ausgeht, dass das, was wir in Russland sehen, ein Einzelfall ist, der irrt. Ob es vergleichsweise perfektionierte Systeme in anderen Ländern gibt, da bin ich mir nicht so sicher, da wird es auch an Geld oder Know-how fehlen. Aber dass es Länder gibt, in denen Doping nicht nur toleriert, sondern von vielerlei Seiten wohlwollend befördert wird, davon bin ich fest überzeugt.

Dazu müsste man mit Whistleblowern besser umgehen, was im Fall der Russin Yuliya Stepanova inklusive IOC-Entscheid nicht der Fall war.

Dagmar Freitag:

Aber dazu braucht es auch Signale aus der Welt des Sports, dass Whistleblower dennoch weiterhin einen Platz im Sport haben. Das IOC hat allerdings aktuell ein gegenteiliges und damit verheerendes Signal gesetzt.

Es wird von Staatsdoping in Russland gesprochen. Russlands Sportminister Witali Mutko ist immer noch im Amt und unantastbar...

Dagmar Freitag:

Das muss verwundern. Wenn man nur Bauernopfer sucht, die suspendiert werden, zeigt dies, dass man nicht verstehen will, in welchem Zustand sich der russische Sport in Gänze befindet.

Gehen die deutschen Sportler sauber in Rio an den Start?

Dagmar Freitag:

Diese Frage kann Ihnen nur jeder einzelne Sportler selbst beantworten. Ich kann nur sagen, dass wir in Deutschland viel dazu beigetragen haben – und zwar Politik, Gesellschaft oder Medien -, dass das Bewusstsein der Athleten unter anderem auch durch gezielte Präventionsmaßnahmen geschärft wurde, dass Doping zu den gröbsten Verletzungen der sportlichen Fairness gehört. Deutschland hat zudem eines der besten Anti-Doping-Gesetze der Welt. Deshalb denke ich, dass deutsche Sportler zumindest gründlich überlegen, ob sie für einen gestohlenen Erfolg Doping-Substanzen zu sich nehmen.

Quelle: Deutsche Presse-Agentur (dpa)

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