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Ein Tag mit… dem Kugelstoß-Kader in Latsch

Was machen Kugelstoßer eigentlich den lieben langen Tag in einem Trainingslager? Um das herauszufinden, haben wir die Trainingsgruppen von Bundestrainer Sven Lang und Bundesnachwuchstrainer Gerald Bergmann in ihrem zweiwöchigen Camp in der Bergwelt von Südtirol (Italien) besucht. Was der ruhige Ort Latsch für Weltmeister David Storl, Europameisterin Christina Schwanitz und Co. für Vor- und Nachteile bringt, verrät die Reportage mit großer Bildergalerie am Ende.
Pamela Ruprecht

Die Anreise nach Südtirol sieht nach Erholungsurlaub aus: Grün gesäumte Berghänge, weiße Schneekuppen und rechts und links Apfelbaumplantagen – mittendrin liegt der kleine Ort Latsch. Der Bundestrainer des Kugelstoß-Kaders der Männer hat diesen Fleck kurz vor Saisonstart nicht umsonst ausgesucht. Absolute Ruhe und Idylle sind Teil seines Plans. „Die Abgeschiedenheit ist natürlich nicht jedermanns Sache“, sagt Sven Lang mit einem verschmitzten Lächeln und spielt damit auf die jungen Athleten an.

Aber für den Zweck des Ausfluges, den Aufbau der Wettkampfform, sollen die Ablenkungen so gering wie möglich gehalten werden. „Außer trainieren, essen und schlafen passiert in so einem kleinen Ort in den Bergen nicht viel“, beschreibt er die für ihn als Trainer sehr günstige Konstellation. Auch sein Schützling David Storl (SC DHfK Leipzig) weiß in dieser Phase des letzten Feinschliffs um die Bedeutung von Konzentration. „Von daher ist es zwar immer total langweilig hier, wenn man frei hat, aber für das Training ist es eigentlich ganz gut.“ Latsch ist berühmt für seine Apfelbäume und den Saft.

Frühstück und freier Tag

In der familiären Unterkunft, Hotel Tanja Sonnenhof, gibt es um 8.00 Uhr Frühstück. Am Freitag ist um diese Zeit nur die Gruppe von Sven Lang am Tisch. David Storl, Hendrik Müller (LAC Erdgas Chemnitz), Christina Schwanitz, Tony Zeuke, Sarah Schmidt und Neu-Zugang Diana Steinhoff (alle LV 90 Erzgebirge). Auch ein 80-Meter-Speerwerfer hat sich unter die Kugelstoßer verirrt: David Golling (LC Cottbus). Er hatte vor sieben Monaten einen Riss der Patellasehne und tastet sich wieder ran.

Nebenan am Betreuertisch sitzen Sven Lang und seine Frau, der Wurftrainer der Bundespolizei Wolfgang Kurth, DLV-Chef-Physiotherapeut Raimond Igel und Wilko Schaa, Wissenschaftler am Institut für Angewandte Trainingswissenschaften in Leipzig (IAT). Nicht dabei Gerald Bergmann – er campiert mit seiner Frau im Wohnwagen – und seine Trainingsgruppe.

Sie trudelt eine halbe Stunde später ein, sie hat ihren freien Tag. Der Deutsche U23-Meister Christian Jagusch, der Dritte der Olympischen Jugendspiele Merten Howe und Johann Glawe sehen etwas verschlafen aus. Am Vorabend war das gesamte Team zum Abendessen im Bierkeller. Eigentlich gehören zu der Neubrandenburger Gruppe auch der Deutsche U23-Vizemeister Dennis Lewke und U18-Weltmeister Patrick Müller, wegen Physiotherapie-Ausbildung und Abitur sind sie aber nicht mitgereist. „Was kann man denn hier so machen?“, fragt Merten Howe. Sie entschließen sich für einen Ausflug nach Meran, mit dem blauen Mannschaftsbus.

Mit Benz oder Bike zum Stadion

Für die Truppe von Sven Lang steht vormittags ein Leistungstest auf dem Plan, die Weiten werden gemessen und notiert. Zweigeteilt, die Jungs stoßen um 10.30 Uhr, die Mädels um 11.45 Uhr. Für Tony Zeuke steht lockeres Training separat auf dem Programm, er fuhr am Samstag früher ab zum Werfercup nach Wiesbaden. Während er und David Golling sich für den 800 Meter langen Weg zum Stadion auf die Mountain-Bikes schwingen, steigt Hendrik Müller mit David Storl in dessen schicken, schwarzen Mercedes.

Sven Lang ist begeistert. Der Sand im Kugelstoßsektor wurde von Dieter Kofler extra glatt gerecht. „Den Platzwart würde ich am liebsten mitnehmen“, sagt der Trainer. Mit Herz und Seele wird alles dafür getan, dass die Kugelstoßer perfekte Bedingungen haben. Kraftraum und Anlagen sind für die Gäste reserviert und im Geräteraum steht immer eine Kiste Äpfel. 2014 wurde ein neuer Ring aus Deutschland errichtet, vor vier Jahren der Kraftraum um eine Hebebühne aufgerüstet. Die Beziehungen sind gut: die Lebensgefährtin des Hotelbesitzers Hans Tappeiner, mit dem Sven Lang befreundet ist, ist zweite Bürgermeisterin für Kultur, Bildung und Sport.

Wettkampf-Rituale vor Bergkulisse am Vormittag

Nach dem Aufwärmen wird die Anlage vorbereitet. Wilko Schaa zieht mit Maßband und Besen „mit Liebe“ gekonnt Orientierungslinien in den Sand. „18 und 20 Meter bitte“, ruft Christina Schwanitz ihm zu. Sie legt ihr Handy neben den Ring und macht elektronische Musik an. Die Stimmung ist etwas angespannt, es geht gleich um Weiten. Der Bundestrainer verlangt von seinen Athleten Einsatz. Denn Formausprägung heißt: „In dosierten Umfängen qualitativ gut arbeiten.“ So fallen in eine Einheit nur noch zwölf bis 15 Stöße, die sollen dann aber „krachen“ (O-Ton Lang).

Es geht los mit Standstößen. Der Trainer nimmt auf einer bereitgestellten Bank Platz, Willko Schaa hinter seinem Laptop mit Sonnenschutz. Er zeichnet die Versuche der Athleten für die spätere Videoanalyse auf, inklusive einer Reihe von Messwerten. Als die Kugelstoßerinnen jedoch mit der Technik des Angleitens zur Höchstform auflaufen, stürzt das System ab. Ein Ersatz-Laptop aus Leipzig wird sehnlichst erwartet und trifft noch am Nachmittag ein.

Ausgerechnet bei den besten Versuchen von Christina Schwanitz gehen die Geschwindigkeiten und Winkel der fliegenden Kugel flöten. „Schade, dass wir den nicht haben“, sagt die WM-Zweite. Die Deutsche Meisterin freut sich dennoch sichtlich über die Weite und klopft sich auf den Oberschenkel. Ihre Abläufe erinnern an die gleichen Routinen wie im Wettkampf – Sinn der Messung. Nach sechs Versuchen, wechselt sie auf die Drei-Kilo-Kugel. „Einen will ich noch sehen, wo nochmal was abgeht“, motiviert sie der Bundestrainer. Mit starken 22,15 Meter beendet sie die Session.

One-Man-Show von David Storl

Als die Männer kommen, ziehen Wolken auf. Hendrik Müller beschwert sich, er hätte gerne ohne T-Shirt gestoßen. David Storl verteilt Bonbons. Bevor sie in den Ring steigen, haben sie eine Reihe physiotherapeutischer Übungen mit Rollen und Zange zu absolvieren. Der Olympia-Zweite merkt an, er brauche bald eine Stunde dafür. Danach werden erst mal die Hände mit Tape verbunden und Magnesium an den Hals geschmiert. Und: eine andere Musik aufgelegt. Der Weltmeister stellt eine kleine Box auf, aus der Cowboy-Klänge kommen.

Er fängt an, die Kugel zu schwingen, von der einen Hand in die andere. Ein ihm sehr vertrauter Alltagsgegenstand. Nach den abwechselnden Standstößen wird es ernst: Mit einem lauten „Japaa“ wuchtet David Storl sein Wurfgerät in die Luft. „Halt den Kugelweg links flach“, erinnert ihn Sven Lang. Der Leipziger neigt zu einer hohen Flugkurve. Während dem Gang zum Kugelholen nimmt er die Anweisungen des Trainers auf. Seine Versuche, die er zur Knieschonung alle ungültig lässt, sind an diesem Tag sehr stark. „Ich werde langsam zum Standmonster“, bemerkt er.

Zum Abschluss greifen Hendrik Müller und er zur Fünf-Kilo-Kugel. Damit lässt sich richtig weit stoßen. Bei David Storl reicht die Länge des Sektors nicht, sie landet bei über 26 Metern im Gras. Für den Ex-Neubrandenburger, der das Training mit leichten Geräten bisher nicht so intensiv praktizierte, regnet es ein paar Meter kürzer eine neue Bestleistung. Grund zum Jubeln und Aufhören. Die Trainingspartner dehnen sich aus: David Storl liegt auf der Tartanbahn, bei der Dehnung seines nach oben gestreckten Beines hilft ihm Hendrik Müller. Indessen trägt Sven Lang alle Daten in seinen Apple-Laptop ein.

Kugelgasse – Zufall oder Schicksal?

Mittags geht es zurück ins Hotel, das in der Kugelgasse 84 liegt. Klingt, als wäre es nach den berühmten Sportgästen benannt. Die Webseite wirbt mit dem Aufenthalt der beiden Europameister. Aber falsch gedacht: Der Name komme von den Betrunkenen, die früher abends aus der Wirtschaft heim „kugelten“, erklärt der Besitzer Hans Tappeiner, der für sein Engagement den Ehrenpreis des Landesverbandes Sachsens erhielt.

Für die Athleten wird um 13 Uhr warmes Essen serviert. Danach gibt es zwei Alternativen. Auf der einladenden Terrasse in Lounge-Sesseln das sommerliche Wetter zu genießen oder sich eine Runde aufs Zimmer zu legen. Hotel-Hund Timi ruht sich ganztags vor der Eingangstüre aus. Der komplette Ort macht Siesta.

Mit frischer Energie ist am Nachmittag Krafttraining angesagt. Um 15.30 Uhr sind die drei Mädels an der Reihe. Christina Schwanitz hat sich umgezogen. Im gelben T-Shirt macht sie auf dem Bauch liegend „Ziehheben“ mit 90 Kilogramm. Ihre Trainingskollegin Diana Steinhoff, die Deutsche U20-Vizemeisterin, wechselte im Winter für den Start in die Aktivenklasse zu Sven Lang. Während die Werferinnen im kleinen Kraftraum Gewichte stemmen, steht Claudia Marx mit der Stopp-Uhr auf der Stadionrunde. Die Bundesnachwuchstrainerin der männlichen Langhürdler ist mit ihrer Dresdner Heimgruppe in Latsch.

Krafttraining mit Punkrock am Nachmittag

Schichtwechsel. Christina Schwanitz und Co. verlassen den Kraftraum, David Storl und Hendrik Müller treten ein. Sie drehen Punkrock auf, so laut, dass man die Gespräche kaum versteht. Unterstützung bei der anstehenden Schwerstarbeit. Eine große Hantel, die der Physiotherapeut Raimond Igel unter Anstrengung mit beiden Händen an David Storl übergibt, wuchtet dieser einarmig nach oben. In den Pausen schauen die Athleten aus dem Fenster nach draußen ins Stadion, das direkt nebenan liegt. Dort realisiert David Golling nach seiner Verletzung besser als gedacht Speerwürfe auf dem Rasen. Zur kleinen Stärkung werden von allen Seiten Äpfel angeboten, sogar zum Fenster fliegen sie herein.

Auch Willko Schaa hat sich in Trainingsklamotten geschmissen. „Oh, die Wissenschaft betritt den Raum“, wird er von Sven Lang begrüßt. Er nutzt die Gelegenheit, Kniebeugen mit einer Hantelstange zu machen. „Ein bisschen weniger Gewicht als die Jungs“, scherzt der Doktorand. Sven Lang erkundigt sich bei ihm, ob seine Frau schon vom Ausflug zurück sei – nein. „Seit acht Stunden ist sie in Meran, das wird Kontobewegungen geben“, flunkert der Bundestrainer. Er montiert dem Wissenschaftler  rechts und links je 500 niedliche Gramm mehr drauf, auch das sorgt für Erheiterung.

Die T-Shirts sind langsam durchgeschwitzt. Die Musik wird härter, aktueller Titel „Mein Herz brennt.“ Eine Herausforderung gibt es noch: Halber Felgaufschwung an der Klimmzugstange. Unter allgemeiner Anfeuerung schafft „Storli“ mit schmerzverzerrtem Gesicht sieben Wiederholungen – es gibt Applaus für seine turnerischen Qualitäten. Ein Highlight im Kraftraum-Alltag. Gewichtsscheiben werden an- und abgeschraubt und aufgeräumt. Gegen Ende, 18.15 Uhr, tippt Sven Lang alles in seine Tabellen, 4x200 Kilogramm oder 2x210 Kilogramm.

Fünf-Gänge-Menü und Physiotherapie am Abend

Nach dem Trainingstag gibt es ein Fünf-Gänge-Menü, für das man Kugelstoßer sein muss, um es zu schaffen. Hauptgang ist Schnitzel. Bis zum Dessert zieht es sich in die Länge. Die Athleten sitzen täglich insgesamt drei Stunden gemeinsam beim Essen und das schon seit zehn Tagen. Beliebte Beschäftigung ist daher das Handy. Hendrik Müller und David Storl genehmigen sich ein Radler und spaßen ein bisschen. Die Neubrandenburger sind nach einem schönen Tag aus Meran zurück.

Am Trainertisch kreisen die munteren Gespräche um die nächsten Meetings, die Schnarchgewohnheiten von Bundestrainern und den strengen Dresscode der ehemaligen DDR. Nach dem Essen hat David Storl eine physiotherapeutische Behandlung in seiner Suite. Was er an dem Abend noch nicht weiß: Dass trotz aller Abgeschiedenheit, die Doping-Kontrolleure den Weg ins wunderhübsche Latsch finden und Sonntag früh morgens beim Hallen-Europameister auf der Matte stehen.

Eine kleine sportliche Geschichte hat das Dorf mit dem italienischen Originalnamen „Laces“ auch: In den 70er Jahren machten unter anderen Zehnkämpfer Jürgen Hingsen, in den 90er Jahren Sprinterin Melanie Paschke in Südtirol Station. Sven Lang fährt hier nicht nur schon seit sieben Jahren ins Trainingslager hin, sondern auch zum Urlaubmachen. Gerald Bergmann verbindet beides: Wenn es bei seinen Werfern mal nicht so läuft, macht er einen Schwenk in das Bergpanorama. Schon sehe die Welt wieder anders aus.

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