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Von Schanzen, Segelwiesen und Rückenwind-Garantie

Körper und Kopf – das Kapital der Athleten. Doch auch äußere Faktoren sind seit jeher entscheidende Puzzleteile im Kampf um Topleistungen. Ausrichter locken Athleten mit bestmöglichen Bedingungen zu ihren Veranstaltungen. Den zulässigen Rahmen geben weltweit die Internationalen Wettkampf-Regeln (IWR) vor. Doch einige Grenzen sind dehnbar. Und einige Anlagen vorteilhafter als andere. Das zu wissen ist wichtig, um Leistungen angemessen einzuordnen.
Silke Bernhart

Der Leichtathletik-Sommer steht bevor – und der erste Wettkampf des Jahres stellt die Weichen für den weiteren Saison-Verlauf. Er ist so immens wichtig: als erste Standort-Bestimmung, für das Selbstbewusstsein, für die eigene Erwartungshaltung und die der anderen. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Athleten sich in den ersten Wochen der Saison diejenigen Meetings aussuchen, die bekannt sind für beste Bedingungen.

Die Riege der deutschen Diskuswerfer läutet zum Beispiel traditionell die Saison in Wiesbaden ein. Wo sie anders als im geschlossenen Stadion auf einer Wiese mit oft idealem Windeinfall die Scheiben segeln lassen können. Anschließend warten die Halleschen Werfertage – Deutschlands Wurf-Mekka mit perfekten Anlagen für weite Würfe und starker internationaler Konkurrenz.

Die Sprinter dagegen absolvieren gerne ihre ersten Rennen bei 30 Grad und zuverlässigem Rückenwind: in Clermont oder Gainesville in Florida. „Das sind Bedingungen, die für Sprinter extrem positiv und optimal sind. Das gleiche betrifft die Wettkampf-Bedingungen, die sind einfach einmalig hier“, bestätigt Bundestrainer Ronald Stein. So präsentieren sich bei diesen Meetings nicht nur die DLV-Athleten, sondern gleich immer eine Reihe internationaler Medaillengewinner aus Europa und Übersee.

Streben nach perfekten Bedingungen

Für Verblüffung sorgen früh im Jahr regelmäßig die US-College-Studenten, die bei Meetings und in den sogenannten Relay-Wettbewerben Weltklasse-Leistungen hervorbringen. Da wird dann auch gerne mal für den perfekten Wind gegen die eigentliche Laufrichtung gesprintet, oder bei den Hürdensprints bleibt zwischen den Athleten eine Bahn frei für einen ungestörten Weg bis ins Ziel.

Die „Rückenwind-Garantie“ ist mittlerweile auch in Deutschland ein beliebtes Argument von Veranstaltern, Topathleten zu ihren Meetings zu locken. Und ein aufwändiges: Um keine Zeit beim Umbau für den Wechsel der Laufrichtung zu verlieren, werden dafür in der Regel zwei elektronische Zeitmess-Anlagen benötigt. Die Wettkampf-Regeln lassen seit 2012 auch das Sprinten in die entgegengesetzte Richtung zu, das heißt mit der Rasenfläche rechts der Laufrichtung. So muss nicht mehr auf die Gegengerade gewechselt werden.

Dehnbare Regeln

Ob auch wirklich alles immer im erlaubten Rahmen bleibt, ist schwer zu sagen. In Erinnerung ist vielen Leichtathletik-Fans womöglich noch das Diamond League-Meeting 2015 in Monaco. In 3:50,07 Minuten stellte Genzeba Dibaba (Äthiopien) dort einen kaum für möglich gehaltenen neuen Weltrekord über 1.500 Meter auf. Regelmäßig erzielen Athleten im Stade Louis II herausragende Laufleistungen. Gleich wurden mehr oder weniger ernst gemeinte Fragen nach der Länge der Bahn laut: Vielleicht fehlen ein paar Zentimeter zu den 400 Metern? Bei einem Meeting dieser Klasse eher unwahrscheinlich. Aber wer weiß es schon genau?

Auch bei deutschen Meetings sehen Zweifler schnell nicht nur perfekte Bedingungen, sondern vermuten gerne mal eine leicht abschüssige Bahn. Oder eine Tonne fehlenden Sand in der Weitsprung-Grube. Einen Trainer günstig vor der Windmessung positioniert. Eine mit bloßem Auge kaum sichtbare Rampe kurz vor dem Absprung-Balken. Oder die entscheidenden Zentimeter mehr bei der Weitenmessung mit nicht gestrafftem Maßband oder bei leicht gekrümmter Rasenfläche.

DLV stellt bei hochkarätigen Meetings Verbandsaufsicht

Frank O. Hamm, im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) als Vizepräsident für den Bereich Wettkampforganisation und Veranstaltungsmanagement zuständig, kennt die Zweifel, die Tricks und die Tücken im Streben sowohl nach bestmöglichen Bedingungen als auch nach der Vergleichbarkeit und Objektivität der Ergebnisse – die einander nicht selten ausschließen.

„National stellen wir sicher, dass bei allen hochkarätigen Meetings aus dem Kreis der Nationalen Technischen Offiziellen eine Verbandsaufsicht eingesetzt wird“, nennt er einen der Kontrollmechanismen. Die Faustregel lautet: Wo Top-Leistungen zu erwarten sind, ist auch der DLV in der Wettkampf-Organisation mit Top-Personen präsent und stellt sicher, dass die Regeln in der Durchführung der Wettbewerbe eingehalten werden.

Vollständige Stadion-Vermessung nur bei internationalen Meisterschaften

Die exakte Länge einer Bahn oder das Gefälle eines Anlaufs kann aber auch die Verbandsaufsicht nicht prüfen. „Bis ins Kleinste detailliert findet eine Vermessung nur für Anlagen der Klasse 1 statt“, erklärt Frank O. Hamm – für Stadien also, in denen Europameisterschaften, Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele stattfinden. In Deutschland gibt es davon genau eines: das Berliner Olympiastadion.

Weiter geht’s mit Anlagen der Klasse 2, auch diese stehen für regelmäßig überprüfte Standards und sind zum Beispiel in Ratingen oder Braunschweig zu finden. Für die meisten Stadien und Wettkampfstätten aber stellt ein Vermesser oder Hersteller einmalig ein Zertifikat aus – auf dessen Urteil sich Ausrichter, Athleten, Trainer und Verbände verlassen müssen. „Es gibt bisher kein standardisiertes Verfahren zur Überprüfung, das ist in fast allen Ländern so“, sagt Frank O. Hamm. „Da ist viel guter Glaube dabei – wobei wir in Deutschland da schon immer sehr genau sind.“

Nur bei mobilen Anlagen, wie sie zum Beispiel bei „Berlin fliegt!“, dem ausgelagerten Weitsprung der DM 2015 in Nürnberg, beim ISTAF Indoor oder auch in der Karlsruher Messehalle zum Einsatz kommen, wird nach dem Aufbau ein komplettes Protokoll erstellt, das als Basis für die Anerkennung von Leistungen für Besten- und Rekordlisten dient. Beim Marktplatzspringen in Recklinghausen zum Beispiel weist die Anlaufbahn stets ein unzulässiges Gefälle auf – weswegen die Leistungen nicht in die DLV-Bestenliste eingehen.

Nichts geht über den direkten Vergleich

Variieren können von Veranstaltung zu Veranstaltung auch der Windeinfall in das Stadion („Es gibt Tribünenkonstruktionen, da entsteht ein regelrechter Windtunnel“), die Beschaffenheit der Bahn – Sprinter bevorzugen in der Regel harten (Mondo-)Untergrund – oder auch die korrekte Arbeit der Kampfrichter (Wird exakt der Auftreffpunkt der Diskusscheibe gefunden? Wurde das Maßband ordentlich straff gezogen? Lag die Latte auf exakt der angegebenen Höhe?).

Was bleibt also als Erkenntnis? Zyniker könnten antworten: Leistungen sind nichts wert, wenn Anlagen und Rahmenbedingungen nicht ohne Zweifel sind. Doch das stimmt nicht. Ergebnisse geben unabhängig von äußeren Faktoren einen Aufschluss über die Form der Athleten – erst recht in der Summe mehrerer Wettkämpfe. Aber klar ist auch: Auf den direkten Vergleich kommt’s an! Das sind die Erfolge, die zählen. Und macht das nicht auch den Reiz und die Faszination der Leichtathletik aus? Wenn Athleten nebeneinander im Startblock sitzen. Schulter an Schulter auf die Zielgerade einbiegen. Dieselbe Latte überqueren. Oder am selben Anlauf stehen?

Es sei denn es läuft ab wie bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau. Dort wurde beim Speerwurf kurzerhand immer dann das Stadiontor geöffnet, wenn der russische Favorit Anlauf nahm. Bei perfekten Windbedingungen segelte sein Wurfgerät so schließlich bis zur Goldweite.

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