| Interview

Herbert E. Müller: "Die Leichtathletik ist zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens geworden"

Fünf Goldmedaillen gewann Herbert E. Müller bei den Senioren-Europameisterschaften im vergangenen Jahr, dazu jeweils einmal Silber und Bronze. Diese Leistung würdigten die User von leichtathletik.de und wählten ihn zum "Senioren-Leichtathleten des Jahres" 2019. Im Interview spricht der inzwischen 90-Jährige über sein vielfältiges Fitnessprogramm und die Planung von Staffel-Weltrekorden.
David Deister

Gratulation und Glückwunsch! Mit mehr als 33 Prozent haben Sie, gewählt von den Internetnutzern, in Sachen "Senioren-Leichtathleten des Jahres" 2019 deutlich die Nase vorn gehabt. Bei den kommenden Hallenmeisterschaften sollen Sie ausgezeichnet werden. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Herbert E. Müller:

Das ist für mich eine große Ehre und überrascht mich, da außer mir vier Weltklasse-Athleten zur Wahl standen. Schon 2017 wurde ich zum Leichtathleten des Jahres gewählt. Was war diesmal anders? Nun, 2019 habe ich elf deutsche Rekorde aufgestellt, 2017 keinen einzigen. Ferner dürfte der hervorragend geschriebene Artikel im ZEIT-DOSSIER meinen Bekanntheitsgrad wesentlich erhöht haben. Dazu schrieb die Rheinischen Post: "Im Mittelpunkt der Geschichte vom Altwerden und Jungbleiben steht Herbert E. Müller, der damit der bekannteste Senioren-Sportler Deutschlands sein dürfte." Dies erklärt wohl auch den deutlichen Vorsprung vor meinen Mitbewerbern.

Wie geht es Ihnen kurz nach dem Jahreswechsel?

Herbert E. Müller:

Schon seit Wochen habe ich eine Erkältung, die ich nicht loswerde. Darunter leidet natürlich auch mein Trainingsprogramm, welches ich reduzieren musste. Auch die Weihnachtstage und die Feierlichkeiten anlässlich meines runden Geburtstages habe ich gut hinter mich gebracht, obwohl das immer Tage sind, an denen man schon mal die Prinzipien gesunder Ernährung leicht vergisst. Ansonsten sorgt aber meine liebe Frau Helga dafür, dass ich mich ausgeglichen ernähre, genügend Schlaf bekomme und etwas gegen meine Erkältung unternehme.

Als langjähriger Einzelkönner und Teamplayer wurden Sie im Zeit-Dossier und noch während der WM-Tage von Doha prominent in Szene gesetzt. Wie lebt es sich mit einer solchen Vorbildrolle?

Herbert E. Müller:

Ich werde nur ungern in eine Vorbildrolle gezwängt. Es soll wohl ein Lob sein, aber für mich ist es eher eine Verpflichtung, also eine Belastung. Wie alle Menschen habe ich meine Schwächen und Fehler, und in vielen Bereichen bin ich durchaus kein Vorbild. Sollte aber meine sportliche Betätigung andere Menschen, egal welchen Alters, zu mehr Bewegung motivieren, dann bin ich gerne Vorbild für diese Menschen.

Wie schaut gewöhnlich eine Trainingswoche eines 90-Jährigen aus?

Herbert E. Müller:

Mit zunehmendem Alter braucht man längere Regenerationszeiten. Ich habe den Eindruck, dass zu viel Training kontraproduktiv wirkt. Deshalb trainiere ich nur noch dreimal in der Woche intensiv: Montags sprinte ich mit meinen Vereinskameraden in Dormagen auf der 60-Meter-Geraden, mittwochs laufe ich mit meinem Trainingspartner 200-Meter-Intervalle in der Düsseldorfer Leichtathletik-Halle, am Wochenende kommt dann eine Ausdauereinheit auf meiner Acht-Kilometer-Strecke hinzu.

Und als Ausgleich?

Herbert E. Müller:

An den Tagen dazwischen betreibe ich mein Ausgleichstraining. Das Angebot ist vielfältig: Gymnastik (zusammen mit meiner Frau) in der Gymnastik-Gruppe, Nordic Walking in der Nordic-Walking-Gruppe, Schwimmen (zusammen mit meiner Frau) und Aquajogging, Ergometer-Training, Radfahren, Treppensteigen … und jeden Morgen 15 Minuten Dehnübungen.

Struktur und Disziplin, Organisation und Motivation waren bei Ihnen ja auch in punkto "Wie trommele ich meine Staffelkameraden rechtzeitig zusammen, so dass wir den 4x400-Meter-Staffel-Weltrekord nach Deutschland holen?"

Herbert E. Müller:

Ja, Weltrekorde, wie den zuletzt in Venedig erzielten (7:23,71 min in der Besetzung Eduard (Edi) Bscheid, Herbert E. Müller, Armin Zosel, Fred Ingenrieth; bis dato gehalten von einem chinesischen Quartett) muss man schon im Vorfeld organisieren. Besonders in den hohen Altersklassen ist es sehr schwierig, vier geeignete Leute zur selben Zeit an denselben Ort zu bringen. Allerdings war das nicht die Premiere. Schon bei den Europameisterschaften 2012 in Zittau wollten wir den 4x400-Meter-Weltrekord (M80) brechen. Nachdem die Staffel aber durch eine Verletzung geplatzt war, gelang es mir, die Staffel nach Essen zu holen, wo wir dann den Weltrekord holten. Dadurch ermutigt, brachen wir dann 2013, ebenso im Sportpark Am Hallo in Essen, den 4x800-Meter-Weltrekord (M80), eine Strecke, die nur selten in Europa gelaufen wird und in der deutschen Rekordliste nicht geführt wird. 2017 gelang es mir, bei der EM in Aarhus eine 4x100-Meter-Staffel (M85) an den Start zu bringen, dank Sportfreund Karl Steiner, der nur wegen des Weltrekord-Versuchs nach Dänemark geflogen ist, dann aber ganz nebenbei noch Europameister im Weitsprung wurde.

Ist denn auch 2020 mit einem Staffel-Projekt zu rechnen?

Herbert E. Müller:

Zur Zeit stehe ich mit zwölf Läufern der Altersklasse M85 in Kontakt mit dem Ziel, schon bei "den Deutschen" in Erfurt oder auch bei der EM in Braga den 4x200-Meter-Weltrekord (M85) zu brechen. Der wurde am 8. April 2012 von den Finnen bei der Hallen-WM in Jyväskylä aufgestellt und liegt bei 3:04,61 Minuten, das sind viermal 46,15 Sekunden. Gesucht werden also vier Läufer der M85, die die Hallenrunde unter 46 Sekunden laufen können.

Die Teilnehmerzahlen bei Deutschen Seniorenmeisterschaften der letzten Jahre sind eher stabil bis leicht steigend. Hat die Masters-Leichtathletik ein Nachwuchsproblem?

Herbert E. Müller:

Nicht nur die Senioren, sondern die gesamte Leichtathletik hat ein Nachwuchsproblem, wie die vom DLV veröffentlichte Statistik auf leichtathletik.de zeigt: Danach hat sich die Mitgliederzahl von 2002 bis 2019 um acht Prozent verringert, bei den 27- bis 40-Jährigen sind es sogar 45 Prozent! Erstaunlicherweise hat sich die Zahl der Senioren und Seniorinnen im gleichen Zeitraum um 64 Prozent erhöht! Davon merkt man allerdings nichts in der Halle oder im Stadion. Erfreulich ist schon, dass die Teilnehmer bei den Meisterschaften, wie z. B. bei den NRW-Meisterschaften, etwa gleichgeblieben ist. Viele Vereine sind gezwungen, Startgemeinschaften zu bilden, um an den Team-Meisterschaften teilnehmen zu können. Ich frage mich auch: wo sind all die fitten Rentner? Früher, zum Beispiel 1998 beim DAMM-Endkampf in Gütersloh, war mein Verein mit einer M50- und zwei M60-Mannschaften am Start, zusammen etwa 40 Leichtathleten. Heute kriegen wir keine Mannschaft mehr zusammen. Wir haben also ein Nachwuchsproblem trotz hervorragender Trainingsmöglichkeiten.

An ein Karriereende ist noch nicht zu denken. Was werden die kommenden Wochen, Monate oder gar Jahre bringen?

Herbert E. Müller:

Höhepunkte der kommenden Saison sind für mich – wie in jedem Jahr  – die NRW-Meisterschaften (Halle und Stadion), die Deutschen Meisterschaften (Erfurt und Zittau) und die Hallen-Europameisterschaften in Braga. Die Weltmeisterschaften in Toronto sind für mich kein Thema; an Weltmeisterschaften nehme ich grundsätzlich nur dann teil, wenn diese in Europa stattfinden. Ansonsten werde ich an Sportfesten und Volksläufen teilnehmen. Das Ziel ist immer, möglichst nahe an die Vorjahresleistungen heranzukommen. Was im nächsten Jahr kommt? Darüber mache ich mir heute noch keine Gedanken.

Seit inzwischen 35 Jahren sind Sie in der Senioren-Leichtathletik zuhause, die Leichtathletikhalle in Düsseldorf betrachten Sie als Ihr Wohnzimmer. Mit welchen Gefühlen blicken Sie heute zurück?

Herbert E. Müller:

Die Leichtathletik hat mir viele schöne Erlebnisse beschert. Ich habe viele nette Menschen, Städte und Länder kennengelernt. Sport ist zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens geworden, weil ich der Überzeugung bin, dass ich dem Sport einen wesentlichen Beitrag zu meiner Fitness zu verdanken habe.

Beide „Senioren des Jahres“, Herbert E. Müller wie auch Silke Schmidt bei den Frauen, sollen im Rahmen der kommenden Senioren-Hallen DM 2020 in Erfurt (28. Februar bis 1. März) geehrt werden.

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