| Gastbeitrag

Gina Lückenkemper: „Sport und Olympische Spiele sind momentan nur Nebensache“

Die Corona-Pandemie hat fast den gesamten Sport weltweit zum Erliegen gebracht. In einem Gastbeitrag schreibt Sprinterin Gina Lückenkemper (SCC Berlin), wie sie diese noch nie dagewesene Situation erlebt, warum die Verlegung der Olympischen Spiele in Tokio aufs Jahr 2021 alternativlos war und was sie sich für die Zeit nach der Corona-Krise wünscht.
Gina Lückenkemper

Seit zwei Wochen steht Deutschland aufgrund der Corona-Krise in vielen Bereichen still. Geschlossene Geschäfte, Schulen, Kitas. Deutlich weniger Verkehr. Soziale Distanz. Alles kommt zur Ruhe. Nur wir Sportler sollten uns weiter bewegen, uns auf die Olympischen Spiele in Tokio vorbereiten. Ohne Trainingsstätten. Ohne Trainingspartner. Ohne nötige Geräte. Zum Glück ist diese bizarre Situation nun vorbei.

Als am Dienstag endlich die Olympischen Spiele verschoben wurden, ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Denn in dieser weltweiten Ausnahmesituation mit Hunderttausenden Erkrankten und schon jetzt Zehntausenden Toten ist der Sport, sind die Olympischen Spiele, nur Nebensache. Es geht um viel mehr. Darum, dass wir gemeinsam diese Krise überwinden und so wenige Menschen wie möglich von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sein werden.

Säulen des Sports sind weggebrochen

Die Verschiebung der Olympischen Spiele ist keine Entscheidung, die man übers Knie bricht. Trotzdem hätte ich mir einen früheren Entschluss und eine klarere Kommunikation vom IOC gewünscht. Schließlich war bereits deutlich absehbar, dass die Pandemie noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht hat und die Auswirkungen in den kommenden Wochen und Monaten noch drastischer spürbar werden. Zudem sind fast überall wichtige Säulen des Sports auf unbestimmte Zeit weggebrochen: von Qualifikationswettkämpfen über Trainingsmöglichkeiten bis hin zum eingestellten Anti-Doping-System.

Natürlich hat diese nie dagewesene Situation auch meinen Alltag verändert. Ich bin ein Familienmensch, doch meine Familie in Soest werde ich in den kommenden Wochen nicht besuchen. Denn nur die Vermeidung von Sozialkontakten kann die Corona-Pandemie verlangsamen und so verhindern, dass unser Gesundheitssystem durch die immer schneller steigende Zahl von Corona-Patienten kollabiert.

Training auf der Wiese

Die Wohnung verlasse ich nur noch zum Einkaufen, für Spaziergänge und zum Training. Das findet momentan auf einer Wiese statt. Zum Glück habe ich einen eigenen Startblock und einen eigenen Schlitten für Zugwiderstandsläufe, sodass ich einigermaßen trainieren kann. Da bin ich im Gegensatz zu Stabhochspringern oder Hammerwerfern, die auf ihre Sportanlage angewiesen sind, in einer deutlich besseren Situation. Nur ein Kraftraum fehlt mir, ich kann nur mit dem Eigengewicht trainieren.

Zwar gleicht meine Trainingswiese an manchen Stellen mehr einem Acker. Doch ab der kommenden Woche kann ich auf einer ebeneren Rasenfläche trainieren. Diese Möglichkeit hat mir eine Bamberger Firma nach meinem Aufruf bei Instagram ermöglicht. Das Gelände kann ich betreten oder verlassen, ohne mit anderen Personen in Kontakt zu kommen. Über diese Möglichkeit bin ich sehr dankbar.

Hoffnung auf Wettkämpfe im Spätsommer

Fast alle meine Trainingseinheiten nehme ich auf Video auf und schicke sie meinem Trainer Lance Brauman. Wir besprechen dann gemeinsam am Telefon oder per WhatsApp das jeweilige Training. Meine Trainingsgruppe in Florida kämpft momentan übrigens mit vergleichbaren Bedingungen wie bei uns. Auch dort sind Trainingsplätze und Krafträume geschlossen. Sie improvisieren genauso wie die deutschen Spitzensportler.

Bleibt die Frage: Für was trainiere ich momentan, trainieren Leichtathleten auf der ganzen Welt? Ich hoffe, dass im Spätsommer noch Wettkämpfe ausgetragen werden können, vielleicht ja sogar die Deutschen Meisterschaften in Braunschweig. Auch die Europameisterschaften in Paris sind noch nicht verschoben worden. Außerdem kann ein Leistungssportler nicht einfach für ein halbes Jahr die Beine hochlegen und erst wieder im Herbst mit dem Training für die Saison 2021 beginnen. Ein gutes Grundniveau muss gehalten werden. Doch momentan sind Wettkämpfe oder andere Großveranstaltungen noch ganz weit weg. Momentan zählt nur unser gemeinsamer Einsatz gegen die schnelle Ausbreitung der Corona-Pandemie.

Als Gemeinschaft zusammenrücken

Ich hoffe, dass diese Ausnahmesituation so schnell wie möglich vorbei ist, möglichst wenige Menschen unter der Krankheit leiden müssen und gleichzeitig unsere Gesellschaft positiv geprägt wird. Dass die Menschen nicht in wirtschaftliche Nöte geraten und wir als Gemeinschaft wieder mehr zusammenrücken und zusammenhalten. Dass Krankenschwestern, Pfleger, Verkäufer und Verkäuferinnen, Sanitäter und Sanitäterinnen und viele andere wichtige Berufe wieder die Wertschätzung erfahren, die sie verdienen. Dass die digitale Infrastruktur weiter ausgebaut wird, damit Homeoffice und E-Learning nicht mehr die Ausnahme bleibt, sondern die Regel wird.

Ich hoffe, dass ich bald wieder meinen geliebten Sport so ausüben kann, wie wir es vor Corona kannten. Dass ich Euch und Sie gesund im Stadion, in Geschäften, auf der Straße treffe. Dass wir uns so nahe kommen wie früher. Wann das so weit ist, kann heute noch niemand sagen. Darum müssen wir weiter gemeinsam zu Hause bleiben, um alte und kranke Menschen zu schützen. Die aktuelle Situation zeigt uns, wie dankbar wir für jeden neuen Tag sein können, an dem wir die Welt gesund genießen dürfen.

Teilen
#TrueAthletes – TrueTalk

Hier finden Sie alle Folgen des Podcasts des Deutschen Leichtathletik-Verbandes!

Zum Podcast
Jetzt Downloaden
DM-Tickets 2024