| Interview

Lidia Zentner: Laufend den Krebs bekämpfen

Es gibt Geschichten, die schreibt nur die Leichtathletik. Eine mit vielen Hindernissen und dennoch dem stetigen Glauben an sich selbst ist die von Lidia Zentner. Die 67-Jährige zählte in ihrem Geburtsland Polen zu den nationalen Hoffnungsträgern über die Mittelstrecken. Als 43-Jährige startete sie einen Neuanfang in der Wettkampf-Leichtathletik, national wie international gekrönt von zahlreichen Medaillen und Altersklassen-Rekorden. Dann folgte im Dezember 2017 die schockierende Diagnose: Krebs. Im Vorfeld der Mehrkampf-DM der Senioren am Wochenende in Zella-Mehlis sprachen wir mit der DLV-Athletensprecherin im Bereich Masters über das Laufen und Kämpfen, über ihre geänderte Einstellung und ihre Vorbildrolle.
David Deister

Vom 14. bis 18. September findet die Krebspräventionswoche der Deutschen Krebshilfe statt. Nähere Informationen erhalten Sie hier. 

Lidia, wir sprechen heute über Deine Erkrankung, Deinen Umgang damit und die Heilkraft des Sports. Bitte bremse mich, sollte ich mit meinen Fragen zu weit gehen und womöglich Grenzen übertreten.

Lidia Zentner:

Ich habe keine Geheimnisse. Diese Krankheit gehört inzwischen zu meinem Leben. Sie ist kein Tabu für mich. Was wäre denn das für ein Leben, wenn ich einen Raum betrete – und die anderen hören auf zu reden.

Der Arzt sagte: „Sie haben Eierstockkrebs“. Wie hast Du da reagiert?

Lidia Zentner:

In den ersten Sekunden dachte ich „Oh je! Und was jetzt?“. Ich habe aber auch schnell meinen Umgang damit gefunden: Ich fühle mich nicht als Kranke, sondern als Kämpferin. Und das ist jetzt der wichtigste Wettkampf meines Lebens. Ob ich diesen gewinne oder verliere? Ich weiß es nicht.

Es folgten Behandlungen und Chemos.

Lidia Zentner:

Anfang Januar 2018 unterzog ich mich einer Operation. Bis Ende Mai desselben Jahres bekam ich Chemos, starke Chemos. Weitere Behandlungen, die das Immunsystem stärken sollten, folgten. Nicht ohne Nebenwirkungen. Die Nerven etwa sind beeinflusst. Meine Füße fühlen sich seitdem so pelzig an. Als wären sie eingeschlafen, aber dauerhaft. Inzwischen habe ich gelernt, damit zu laufen.

Wie konntest Du da wieder Tritt fassen?

Lidia Zentner:

An einem Donnerstag im Januar wurde ich nach der ersten Behandlungsphase aus dem Krankenhaus entlassen. Und am Samstag darauf war ich wieder bei meinen Athleten im Stadion und habe ein paar Runden gedreht. Ich war unter ihnen, das war schön. Ich verkrieche mich nicht in die Ecke und weine ständig, sondern tue alles dafür, dass ich wieder gesund werde und das Beste daraus mache. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und ich habe eben das.

Und dann ging es in die Reha?

Lidia Zentner:

Nein, in die Reha wollte ich einfach nicht, wenn auch alle versucht hatten, mich dazu zu überreden. In dieser Phase hätte mir das nicht gutgetan, dachte ich. Mein Ziel war es, so zu leben wie gewohnt. Die beste Reha war für mich immer das Stadion. Und meine Sportfreunde. Auch von dem von mir im Vorfeld organisierten Vereins-Trainingslager ließ ich mich zwischen den Chemos nicht abbringen. Ich habe meine Medikamente mitgenommen, hatte mich rechtzeitig kundig gemacht, zu welchem Arzt ich im Fall der Fälle vor Ort gehen könnte. Ja, rückblickend hatte ich da Glück. Es ist nichts passiert und ich habe nichts bereut.

Dazu braucht es ein gutes und verständnisvolles Umfeld.

Lidia Zentner:

Ganz richtig. Aber auch andersherum. Mehr und mehr war ich später da für Frauen und Männer in meinem Bekanntenkreis. Ich habe diese Vorbildrolle angenommen, diesen Menschen diese wahnsinnige Angst vor dem Krebs genommen. Und ihnen immer wieder Mut gemacht. Daraus habe wiederum auch ich Kraft gezogen und mein Leben bereichert.

Das Laufen als Heilmittel?

Lidia Zentner:

Das Laufen in der Natur. Ja, unbedingt. Der Sport hat mir geholfen, besser damit umzugehen. Auch in den Augen meines Arztes war Ausdauersport das Beste was ich tun kann, besser als jedes Medikament. Schon früher war das Laufen für mich eine Art Sicherheitsventil. Du gehst an die frische Luft und läufst. Hatte ich ein Problem, zog ich meine Laufsachen an und rannte los.

Seit der Diagnose sind inzwischen 2 ½ Jahre vergangen. Wie lebt die Kämpferin Lidia Zentner heute?

Lidia Zentner:

Ich habe eine sehr gute Lebensqualität. Tiefpunkte und Depressionen etwa habe ich gar nicht erst zugelassen. Die sollten mich nie beherrschen, haben es auch nie. Alle drei Monate muss ich zur Kontrolle, mit der Sorge und in der Hoffnung, dass alles gut ist. Du weißt ja nicht, wohin der Zug fährt. Jede Krankheit hat da ihre eigenen Gesetze.  

Das Laufen war und ist aus Deinem Leben nicht wegzudenken. Doch jetzt findet es unter veränderten Vorzeichen statt.

Lidia Zentner:

Stimmt. Heute kann ich nicht so laufen wie früher. Als Nachwuchsläuferin trainierte ich bis zu 12 mal in der Woche. Selbst heute noch laufe ich fast jeden Tag. Und als Altersklassenathletin richtete ich mein Training an den Jahres-Höhepunkten, an den internationalen Meisterschaften, aus.

Heute will ich keine Europa- und Weltrekorde mehr aufstellen, nationale Bestleistungen auch nicht. Ich bin nicht mehr so leistungsorientiert, sondern froh, wenn ich einfach dabei sein kann. Als Nachwuchsläuferin gab mein Wille den Ausschlag, heute setzt mein Körper die Grenzen. So war ich trotz Behandlungen und Chemos bei fast allen großen Deutschen Meisterschaften, teils auch „nur“ als Zuschauerin.

Dein Name findet sich dann unter anderem auch wieder in der Ergebnisliste der Deutschen Hallenmeisterschaften 2019 in Erfurt.

Lidia Zentner:

Genau ein Jahr zuvor war ich in eben dieser Leichtathletikhalle, kurz nach Abschluss der dritten Chemo. Dort habe ich mir gesagt: Nächstes Jahr will ich wieder dabei sein. Das habe ich geschafft. Anders als sonst, reihte ich mich diesmal hinten ein, wurde ich am Ende sogar Dritte. Hauptsache ankommen, das war mein neues Ziel. Die, die mich kennen, wussten, was ich konnte. Niemandem muss ich jetzt noch etwas beweisen. Und doch sagte ich mir nach der Ziellinie: „Oh je, so eine Zeit!“.

Was hat Dich das Laufen gelehrt?

Lidia Zentner:

Durchhalten können und diese Disziplin haben – das ist das Wichtigste. Aber auch um das Trainerdasein habe ich viel gelernt, schon von Kindesbeinen an. Als Trainerin, Vereinsvorsitzende und Personal-Trainerin nehme ich viel mit. Von blindem Vertrauen, auch dem Trainer gegenüber, halte ich allerdings nicht viel. Noch wichtiger ist, dass ein Sportler in der Lage ist, in sich zu gehen, seinen eigenen Körper kennen und verstehen lernt. Wie trainiere ich richtig? Was ist diesmal zu wenig, was womöglich zu viel? Plane oder laufe ich in einer bestimmten Trainingsphase z.B. auch nur einmal zu viel oder zu schnell, kann der erwünschte Trainingseffekt schon dahin sein.

Und Dein Blick in die Zukunft?

Lidia Zentner:

Ich möchte gerne noch ein bisschen mitmischen so lange es möglich ist. Was das Schicksal einem bringt, weiß ja kein Mensch. Ich kann heute ins Auto steigen – ohne zurückzukommen. Dennoch muss ich nicht sofort und immer an den Tod denken. Jetzt bin ich da und genieße das Leben, jeden einzelnen Tag – auch wenn ich mit einem Laster leben muss.

Die Mehrkampf-DM (mit Gewichtwurf) der Senioren findet vom 21. bis 23. August in Zella-Mehlis statt. Ausschreibung, Zeitplan, Meldeliste und viele weitere Informationen finden Sie hier.

Vom 14. bis 18. September findet die Krebspräventionswoche der Deutschen Krebshilfe statt. Nähere Informationen erhalten Sie hier. 

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