| Rückblick

Mein Moment: Jackie Baumann und ihr Rücktritt vom Leistungssport

Es war kein Jahr wie jedes andere. Das Virus Covid19 beherrschte die Welt und damit auch die Welt der Leichtathletik. Und dennoch war es ein Jahr, in dem die Menschen nach anfänglicher Schockstarre schnell wieder in Bewegung kamen, kreativ wurden und bewiesen: Keine Krise kann uns aufhalten. Die Redaktionsmitglieder von leichtathletik.de blicken auf ihren persönlichen Leichtathletik-Moment des Jahres zurück. Heute: ein überraschender Rücktritt.
Alexandra Dersch

Es gibt Tage, die brennen sich irgendwie ein. Das Datum. Das Setting. Das plötzliche Gefühl. Der 7. August – der war in diesem Jahr so ein Tag für mich. Es war kurz vor Mittag. Ich war gerade im Begriff meinen Laptop zuzuklappen und ins Auto zu steigen. Das Ziel: Braunschweig, wo am Tag darauf die Deutschen Meisterschaften der Leichtathleten stattfinden sollten. Da tickerten die Agenturen folgende Schlagzeile: „Jackie Baumann beendet ihre Karriere.“

Mein erster Gedanke: Das kann nicht sein. Das muss eine andere Jackie Baumann sein. Aus einer anderen Sportart. Warum ich das dachte? Weil ich tags zuvor noch für die Vorschau auf die DM über ihre Disziplin geschrieben hatte, zusammengefasst hatte, dass Jackie Baumann in diesem Sommer in der Form ihrer bisherigen Karriere zu sein schien. Jede Strecke, über die sie antrat – die 25-Jährige war schnell wie nie. Und das nach langen Verletzungssorgen. Eine schöne Geschichte. Dachte ich. Doch: Ich kannte nicht die ganze Geschichte der Jackie Baumann. Denn die Wahrheit hinter den Bestzeiten, hinter dem Comeback – sie sah anders aus, als ich, wir, die Öffentlichkeit sie kannten.

Jackie Baumann, das war die Frau mit dem starken Blick, mit dem athletischen Körper, mit der so beneidenswerten technischen Finesse in ihrer ohnehin so anspruchsvollen Disziplin. Ein Bewegungstalent. Sie hätte in vielen Sportarten Karriere machen können. Sie wählte bewusst die 400 Meter Hürden. Geradeauslaufen – das kann jeder.

Eigene Geschichte schreiben

Aber Jackie Baumann war eben nicht wie jeder. Sie hob sich ab. Und das bewusst, denn ihr Ziel war, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Das hat sie auch bei Nachfragen im Hinblick auf ihren berühmten Vater immer wieder betont.

Europameisterschaften. Olympische Spiele. Weltmeisterschaften – Jackie Baumann war überall am Start. Und das mit gerade Anfang 20. Die Experten sagten ihre eine große Zukunft voraus. Eine Zukunft, die auch Jackie Baumann selber sah – jedoch mit einem entscheidenden Haken. „Ich glaube schon, dass ich es ins olympische Finale hätte schaffen können, aber der Weg dahin – ich weiß nicht, wie ich das hätte bestreiten können.“

Negativspirale setzte sich in Gang

Denn während andere Athleten in Wettkämpfen über sich hinauswachsen und ungeahnte Kräfte entwickeln, so fühlte sich Jackie Baumann von Tag zu Tag schlechter, je näher die Wettkämpfe kamen. „Ich hatte die letzten vier, fünf Jahre immer damit zu kämpfen, dass meine Welt immer enger, immer kleiner wurde, je weiter die Saison voranschritt“, sagte Jackie Baumann Monate nach ihrem Rücktritt über ihre damalige Gefühlswelt zu mir im Podcast #TrueAthletes-TrueTalk, der in wenigen Tagen erscheinen wird.

„Es war, als würde ich neben mir stehen und mich fragen: Wer bist du? Und warum bist du ich?“

Die Seite, die nicht glänzt

Ihre Geschichte ist eine Geschichte, die auch Teil der Welt des Leistungssports ist. Die zeigt, wie vielschichtig die Gefühlswelt in der Leichtathletik sein kann. Wie viel vom Glanz der Sieger oft überstrahlt wird. Wie sich Sieger eben doch nicht immer als Gewinner fühlen. Weil es in ihrer Seele ganz anders aussieht, als ihr abgekämpftes, aber dennoch vermeintlich strahlendes Gesicht im Ziel aussagt.

Der Leistungssport. Er ist hart. Er tut weh. Und: Er ist nicht für jedes Talent der richtige Weg. Auch wenn der Körper noch so viel Potenzial zeigt. Auch wenn die Vorzeichen so gut stehen. Wenn die Seele nicht will, dann kann der Körper dieses Ungleichgewicht auf Dauer nicht kompensieren.

Dieser Teil des Leistungssports bleibt zumeist im Dunkeln. Weil nicht danach gefragt wird. Weil die Betroffenen es selbst nicht wahrhaben wollen. Weil sie diese Gefühle nicht offenbaren wollen. Dazu braucht es Mut. Eine starke Persönlichkeit. Ein Kämpferherz. Und die Erkenntnis: Nicht du bist falsch. Nur: Dieser Weg ist nicht deiner.

Ziel erfüllt

Jackie Baumann hat nun ihren eigenen Weg in diesem Sport gefunden. Abseits der Wettkämpfe. Der Meisterschaften. Denn: Ihr Herz brennt für die Leichtathletik. Aber es schlägt nicht für den Leistungssport. Sie macht den Sport für sich. Daher war es im Nachhinein betrachtet keine Überraschung, dass sie ihre Karriere im Moment eines absoluten Formhochs beendete. Am Tag nach ihrem Rücktritt lief Jackie Baumann zu Hause in Tübingen ihren letzten Trainings-Wettkampf. Privat. Nur für sich. „Da bin ich Bestzeit und Olympianorm gelaufen. Ich weiß, das steht alles nirgendwo. Aber ich weiß, ich kann‘s.“

Jackie Baumann: Ihr Ziel war es immer, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Ein Ziel, dass sie zu 100 Prozent erreicht hat.

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