| Paralympics 2021

"Weltweites Aufrüsten": Paralympics als Hochleistungs-Profisport

Noch vor wenigen Jahren gab es im Para-Sport Klassen mit geringer Leistungsdichte. Manche Sportler gewannen mehrere Disziplinen, talentierte Quereinsteiger siegten sofort. Diese Zeiten sind vorbei. Para-Sport ist heute absoluter Hochleistungssport.
dpa/sb

Triathlet Martin Schulz simulierte im beheizten Zelt bei 36 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit die Bedingungen in Tokio. Kugelstoßer Niko Kappel (VfL Sindelfingen) stand jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf, um sich an die Zeitumstellung bei den Paralympics zu gewöhnen. Radsportler Martin Schindler mietete sich zu Jahresbeginn privat für zehn Wochen eine Finca auf Mallorca, um zu trainieren. Der Behindertensport ist in der Spitze längst zum absoluten Hochleistungssport geworden.

Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensport-Verbands (DBS), hat ein "weltweites Aufrüsten" registriert. Vollprofitum, Materialschlachten und zahlreiche Spezialisten rund um die Sportler sind inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Die ehrgeizigen Goalballer haben bei den Paralympics in Tokio einen eigenen Psychologen und einen Videoanalysten mit dabei. Insgesamt kümmern sich acht Ärzte und 16 Physios um die 134 Athletinnen und Athleten.

"Am Anfang waren wir froh, wenn bei Weltmeisterschaften ein Physio dabei war. An einen Arzt war nicht zu denken", sagt Prothesen-Sprinter David Behre (TSV Bayer 04 Leverkusen), der 2009 begann: "Heute haben wir einen Biomechaniker dabei." Auch Behres Trainer Karl-Heinz Düe (73), der seit 1992 amputierte Springer und Sprinter in Leverkusen trainiert und dabei Stars der Szene wie Heinrich Popow oder Johannes Floors formte, sagt: "Wenn ich das mit meinen Anfängen vergleiche, kann ich gar nicht beziffern, um wie viel Prozent das in Sachen Professionalisierung gestiegen ist."

"Du musst alles auf eine Karte setzen"

Verschiedene Auswüchse, die der Wertigkeit des Sports in der breiten Öffentlichkeit schadeten, wurden erfolgreich bekämpft. Dass ein Athlet mehrere Disziplinen dominiert, gibt es kaum noch. Nur, wer sich spezialisiert, kann zumindest in einer zur Weltspitze gehören. Dass ältere Athleten erfolgreich sind, ist meist nur noch in sitzenden Klassen möglich, wo die Kraft fast ausschließlich aus der Hüfte kommt. Oder bei Ausnahmetalenten wie Andrea Eskau (50; USC Magdeburg), die als nicht nur topfit ist, sondern auch an ihren Rennrollstühlen tüftelt.

"Du muss alles auf die Karte Sport setzen", sagt Behre: "Du musst zweimal am Tag trainieren können und den Kopf frei haben. Sonst kommst du in der Weltspitze nicht mehr mit." Der 34-Jährige ist seit kurzem Unternehmer und seit knapp einem Jahr Vater  und beendet konsequenterweise nach Tokio seine Karriere. "Ich kann die Intensität nicht mehr gehen", sagt er: "Dann würde der Sport untergehen."

Der kleinwüchsige Kappel, der in einer der stärksten und ausgeglichensten Klassen die Kugel stößt, mischt oben mit, weil er Profi ist. Während der Pandemie baute er sich einen Kraftraum im Keller. In Tokio verzichtete auf die Eröffnungsfeier, um die Vorbereitung auf den Wettkampf sechs Tage später nicht zu stören.

Kappel: Ein halbes Jahr komplett dem Sport gewidmet

Wie die meisten Leichtathleten bezog er, dem Beispiel der Leichtathleten des DLV folgend, rund zwei Wochen vor Beginn der Wettkämpfe ein "Akklimatisierungs-Trainigslager" in Miyazaki rund 1.000 Kilometer von Tokio entfernt. Mit dabei war auch Johannes Floors, inzwischen als Nachfolger von Behre der führende Sprinter in der Klasse des einstigen "Blade Runners" Oscar Pistorius aus Südafrika.

"Das letzte halbe Jahr habe ich komplett dem Sport gewidmet", berichtet Kappel: "Im Studium habe ich ein Urlaubs-Semester eingelegt. Persönliche Kontakte hatte ich nur zu den wichtigsten Personen in meinem Umfeld, um überhaupt nichts zu riskieren." Außerdem habe er in Tokio "alles dabei, um meine Routinen zu behalten und wenig Neues auszuprobieren." Das reicht von Trainings-Utensilien über Nahrungsergänzungsmittel bis hin zu Glücksbringern.

Jörg Frischmann, 1992 Paralympics-Sieger im Kugelstoßen und heute Teammanager der Leichtathleten, erzählt: "Als ich angefangen habe, habe ich direkt Medaillen bei internationalen Wettkämpfen gewonnen." Das sei heute die absolute Ausnahme. "Die Zeiten sind lange vorbei", sagt sogar Behre. Karrieren werden meist von klein auf aufgebaut. "Als Quereinsteiger durch einen Unfall oder eine Krankheit ist es schwer, wenn nicht unmöglich, in die Weltspitze zu kommen."

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