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Kendra Harrison - Der Komet am Hürdenhimmel

Es hätte das perfekte Jahr für Kendra Harrison werden können. Doch ihre einzige Niederlage des Sommers ließ die großen Olympia-Träume der US-Hürdensprinterin platzen. Trostpflaster waren ein neuer, aufsehenerregender Weltrekord und der Gewinn der Diamond Trophy.
Christian Fuchs

Damit ist die 24-Jährige ein neuer Komet am Hürdenhimmel, einer mit Nachholbedarf. In den nächsten Jahren könnte sie das verwirklichen, was ihr in diesem Jahr noch nicht gelungen ist und nach einem großen internationalen Titel greifen.

Und das vielleicht sogar noch auf einer anderen Strecke, denn neben den 100 Meter Hürden denkt Kendra Harrison auch an die 400 Meter Hürden. Wann dafür die richtige Zeit ist, vermag sie noch nicht zu sagen. Es ist aber mehr als eine Option. Sie verfügt bereits über eine Bestzeit von 54,09 Sekunden und sieht noch Luft nach oben: „Ich möchte dort auch Zeiten für die Weltspitze laufen.“

Das tat sie in diesem Jahr auf ihrer aktuellen Paradestrecke sehr eindrucksvoll. Die 24-Jährige dominierte auf den 100 Meter Hürden die Diamond League nach Belieben, lief in der Königsklasse der Leichtathletik von Sieg zu Sieg.

Mit falscher Einstellung an Olympia-Quali gescheitert

Darunter war auch ihr Weltrekordlauf in London (Großbritannien): In 12,20 Sekunden löschte die nur 1,63 Meter große Athletin die 28 Jahre alte Bestmarke der Bulgarin Yordanka Donkova aus den Rekordbüchern aus. Bereits zuvor war sie in Eugene in 12,24 Sekunden einen US-Rekord gelaufen.

Und genau dazwischen lag jenes verhängnisvolle Rennen, wiederum in Eugene, diesmal bei den US-Olympia-Trials. Kendra Harrison dachte vor dem Finale nicht mehr ans Siegen, sondern hatte vielmehr im Kopf, dass ein Platz unter den ersten Dreien schon zur Olympia-Qualifikation reichen würde. „Das entsprach nicht meiner Mentalität, das war nicht ich. Bei mir geht es immer um den Sieg“, stellt sie jetzt im Nachhinein zur Mission „Auf Nummer sicher“ fest.

Sich auch mit Platz zwei oder drei zufrieden geben zu wollen, war ihre Blockade: Am Ende wurde sie in 12,62 Sekunden Sechste. Nach Rio de Janeiro (Brasilien) fuhren drei andere. „Ich musste mir aber neue Ziele setzen und den anderen zeigen, dass es bei den Trials nur ein schlechter Tag war.“

Olympische Spiele vor dem Fernseher

Sie selbst war schließlich während der Olympischen Spiele nur Zuschauerin am Fernseher und musste sich dort mit anschauen, wie Brianna Rollins, Nia Ali und Kristi Castlin den Sweep der US-Girls perfekt machten.

„Ich hatte dieses Ergebnis erwartet, das war aber schon hart für mich“, bekennt Kendra Harrison. Nach TV-Olympia brach sie zu den restlichen Meetings in der Diamond League auf. Mit Siegen in Lausanne (Schweiz), Paris (Frankreich) und Zürich (Schweiz) sowie dem Gewinn der Diamond Trophy tröstete sie sich über die Olympia-Abstinenz hinweg.

Dass sie überhaupt so schnell wieder in die Spur fand und gleich nach dem Scheitern bei den US-Trials zum Weltrekord lief, verdankt sie vor allem ihrem Coach Edrick Floreal. Er gab ihr wieder Selbstvertrauen zurück, erklärte ihr, dass sie wegen eines Rennens noch lange keine schlechte Hürdensprinterin sei.

Mit Weltrekord rehabilitiert

Schnell machte er sich mit seinem Schützling wieder an die Trainingsarbeit, um die Enttäuschung zu verarbeiten. Er schickte Kendra Harrison bestens vorbereitet in London an den Start - und vor allem auch top-motiviert: „Ich wollte rausgehen und den Mädels zeigen, was ich drauf habe.“ Das tat sie mit ihren 12,20 Sekunden. Damit war sie eine Hundertstel schneller als Yordanka Donkova und ein Teil der Geschichtsbücher.

Und plötzlich war die Athletin, die im letzten Jahr für viele noch ein Nobody war und sich selbst auch so sah, ein gefragter Star. Interviews, Presseanfragen und PR-Termine bei ihren nächsten Wettkämpfen, das war plötzlich an der Tagesordnung. „Das war alles neu für mich“, sagt Kendra Harrison. Und es schien nicht ihre Welt zu sein - oder zumindest noch eine ziemlich fremde Welt. Großer Rummel ist nicht ihr Ding.

Aufgewachsen ist Kendra Harrison in North Carolina als Adoptivtochter mit zehn anderen Geschwistern. Acht davon waren auch von ihren Eltern adoptiert worden. Das hat sie sicherlich geprägt. Vor allem aber durfte sie so ziemlich alles ausprobieren, worauf sie gerade Lust hatte.

Vom Fußball zur Leichtathletik

So kam sie vom Turnen über das Cheerleading zum Fußball und schließlich zur Leichtathletik. Im Fußball wurde deutlich, dass sie schnell war. Sie erwies sich als die perfekte Konterspielerin und schoss viele Tore. Doch das alleine reichte nicht. Parallel dazu versuchte sie sich noch an der Leichtathletik.

Selbst am College trainierte sie zunächst nicht mit dem Leichtathletik-Team, sondern nahm nur an Wettkämpfen teil. Und dort gewann sie auf Anhieb! „Davon waren alle geschockt“, erinnerte sie sich daran, wie ihr großes Talent offenkundig wurde. Damit war klar: Ihre Zukunft liegt auf der Bahn.

Sally Pearson als Vorbild

Nach und nach holte sie sich den Feinschliff und zeigt heute eine Technik über den Hürden, die viele Experten begeistert und um die sie die Konkurrenz beneidet. Mit ausschlaggebend waren dafür viele Videoanalysen, die sie gemeinsam mit ihrem Coach vornahm. Vor allem London-Olympiasiegerin Sally Pearson hatte es ihr angetan. Sie schaute Videos von der Australierin parallel zu ihren eigenen an und sich immer mehr ab.

„So konnte ich mich immer mehr verbessern“, erklärt sie ihr Erfolgsgeheimnis. Was ihren Stil betrifft, so bleibt Kendra Harrison bescheiden: „Jede hat ihre eigene Technik.“ Doch fest steht: Mit ihrer Technik steht ihr noch eine große Zukunft bevor. Vor allem aber scheint sie die Lehrstunde der Olympia-Trials in diesem Jahr noch stärker gemacht zu haben, wenn sie sagt: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir das nicht wieder passieren wird.“

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