| Interview

Kurschilgen: „Die deutsche Leichtathletik hat in zweierlei Hinsicht einen Lauf“

Es war ein Wochenende, was sich nachhaltig in das deutsche Leichtathletik-Gedächtnis einbrennen wird. Bei der Team-Europameisterschaft in Braunschweig holte die deutsche Mannschaft Gold. Besonders erfreulich: Neben altbekannten Namen setzen auch einige frische Gesichter Akzente. Im Interview spricht einer der Väter des Erfolgs, DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen, über das Geheimnis hinter dem Triumph, wie man aus Individualisten ein Team formt und warum die deutsche Leichtathletik gerade im doppelten Sinne einen Lauf hat.
Alexandra Neuhaus

Herr Kurschilgen, herzlichen Glückwunsch zur Team-Europameisterschaft. Vor der Meisterschaft haben Sie die öffentlichen Erwartungen bewusst niedrig gehalten. Wie groß war die Freude, als dieser geheime Traum vom Heim-Erfolg doch in Erfüllung gegangen ist?

Thomas Kurschilgen:

Wir hatten die Erwartungen gegenüber dem Team nicht niedrig gehalten. In der Mannschaftsbesprechung haben wir sehr deutlich formuliert: „Wenn wir Zentimeter für Zentimeter zusammenzählen, wenn wir Punkt für Punkt addieren, wenn wir bereit sind diesen  Augenblick in Braunschweig konsequent zu nutzen, wenn wir bereit sind uns an beiden Wettkampftagen zu zerreißen, dann macht das am Ende den verdammten Unterschied zwischen Sieg und Medaillenplatz aus." Die Mannschaft ist der Botschaft gefolgt und hat ganz Leichtathletik-Deutschland einen schönen Traum erfüllt. Im eigenen Land vor zahlreichen Fans im Stadion und vor den Fernsehschirmen zu gewinnen, macht mich und das Team besonders stolz.

Wo sehen Sie die Gründe für diesen überragenden Sieg? Es war immerhin das zweitbeste Ergebnis eines Team-Europameisters überhaupt.

Thomas Kurschilgen:

Für die DLV-Nationalmannschaft war es mit Abstand das beste Ergebnis seit 2009, mehr als wir intern für die Tage in Braunschweig prognostiziert hatten. Wenn ein Team an sich glaubt, miteinander interagiert, sich emotional gegenseitig trägt und unterstützt, dann kann es gut vorbereitet im wahrsten Sinne Berge versetzen. Arne Gabius hat im Team artikuliert, dass er vorne mitmischen und elf oder zwölf Punkte herauslaufen will, Christian Reif wollte sich das Heimspiel in Braunschweig nicht nehmen lassen und hatte den festen Glauben, sich bei starker Konkurrenz durchzusetzen und Team-Kapitän Robert Harting war überzeugt davon, dass, wenn sich die Mannschaft in den Wettkampftagen nach vorne peitscht, etwas Großes erreicht werden kann.

Wie schwer war es, aus Individualisten, die Leichtathleten von Natur aus ja nun mal sind, innerhalb kürzester Zeit ein so gut funktionierendes Team zu formen?

Thomas Kurschilgen:

Wenn ich die Auftritte der DLV-Nationalmannschaft seit Beginn meiner Tätigkeit im Jahre 2009 verfolge, dann sind wir bei allen großen Meisterschaften - trotz unterschiedlicher individueller Zielstellungen - stets als das National-Team aufgetreten. Ein Team zu formieren, gelingt nicht von heute auf morgen. Gemeinsam mit Cheftrainer Idriss Gonschinska und dem gesamten DLV-Trainerteam versuchen wir in gemeinsamen Trainingslagermaßnahmen, in Lehrgängen und bei den Zusammenkünften der Nationalmannschaft zu vermitteln, was wir unter kompetenzorientierte Führung, Teamwork und Zusammenarbeit verstehen. Jeder gibt etwas von seiner Kompetenz, bringt sein fachspezifisches Wissen und Know-how ein und am Ende haben alle - und insbesondere die Athleten - mehr!

In den letzten Jahren hieß es nach internationalen Großereignissen gerne ‚Deutschland, Werferland‘. Nach Braunschweig ist diese Behauptung wohl nicht mehr tragbar. Wie hat sich das Bild der Mannschaft auch in Ihren Augen verändert?

Thomas Kurschilgen:

Wie hat in den Tagen eine renommierte deutsche Tageszeitung formuliert: Die deutsche Leichtathletik hat einen Lauf. Aus unserer Sicht gilt das in zweierlei Hinsicht: Seit 2009 präsentieren sich die DLV-Nationalmannschaften im europäischen als auch im Weltmaßstab auf einem extrem hohen Niveau und in Braunschweig haben die männlichen Läufer mit drei Siegen und zwei Top-Zwei-Platzierungen gezeigt, was in ihnen steckt. Ich würde mir wünschen, dass sie die Früchte ihrer Arbeit auch bei den Europameisterschaften in Zürich ernten können. Die DLV-Nationalmannschaft ist auf europäischer Ebene gut und breit aufgestellt. Aktuell 40 Top-Sechs-Platzierungen in den Einzeldisziplinen rekrutieren sich aus fast 70 Prozent der olympischen Disziplinen.

Was besonders auffällig war: Gerade die jungen Athleten sind im Eintracht-Stadion gefühlt über sich hinaus gewachsen. Wie haben Sie die jungen Wilden wie etwa Timo Benitz, Andreas Hofmann oder auch Malaika Mihambo erlebt und wo sehen Sie die Ursachen für ihren Aufschwung?  

Thomas Kurschilgen:

Wir versuchen in der Neuformierung der DLV-Nationalmannschaft die jüngeren Athleten des JuniorEliteTeams konsequent in die internationalen Wettkämpfe zu führen. Sie sollen lernen, sich zu beweisen, internationale Erfahrung und Wettkampfkompetenz zu erlangen. Malaika Mihambo war bereits mit 19 Jahren als Jüngste bei der Weltmeisterschaft in Moskau 2013 dabei. Sie hat dort viel gelernt und zeigt nun als außergewöhnliches Talent ihr Können selbstbewusst bei der Team-EM. Die Athleten wissen, dass wir Vertrauen in ihre Leistungsfähigkeit haben, dass wir uns von ihnen einen risikoreichen und mutigen Wettkampf wünschen, und wenn es einmal nicht funktioniert, stellen wir uns als Mannschaftsleitung schützend vor sie.

Aber bei aller Freude über das gute Ergebnis in Braunschweig liegt in der Natur des Leistungssports auch, dass nach der Team-EM schon wieder vor den nächsten Großereignissen ist. Wie viel Rückenwind nehmen Sie und die Mannschaft aus der Team-EM für die kommenden Höhepunkte mit?

Thomas Kurschilgen:

Zunächst einmal sollten wir alle den Erfolg und den phantastischen Auftritt des Teams genießen. Dies ist allein aus Respekt vor den Leistungen der Athleten geboten. Es ist im Spitzensport schon erschreckend, wie kurz sich Halbwertzeiten von sportlichen Erfolgen gestalten und wie schnell erfolgreiche Athleten oder Teams bei vermeintlichen Misserfolgen kritisiert werden. Ich kann, will und werde mich dem nicht anschließen. Mit Blick auf Zürich sind wir aktuell gut aufgestellt. Fast 65 Platzierungen unter den Top Zwölf in Europa sprechen für sich.

Bevor es nach Zürich gehen kann, müssen erstmal die EM-Tickets vergeben werden. Bereits am kommenden Wochenende wird es für die deutschen Mehrkämpfer bitterernst. In Ratingen kämpfen die Zehn- und Siebenkämpferinnen beim Erdgas-Mehrkampf-Meeting um ihre Fahrkarte zur Europameisterschaft. Welche Athleten haben Sie hier auf dem Zettel?

Thomas Kurschilgen:

Es freut uns zunächst sehr, dass wir für Ratingen eine Vielzahl von DLV-Athleten auf dem EM-Zettel haben können. Die Bundestrainer Rainer Pottel und Wolfgang Kühne leisten im Mehrkampf mit den persönlichen Trainern der Zehn- und Siebenkämpfer eine hervorragende Arbeit. Wir sollten bei den Männern alle 8.000-Punkte-Athleten aus 2013 und 2014 und bei den Frauen alle 6.000-Punkte-Athletinnen auf der Rechnung haben, die beim Mehrkampf-Meeting starten werden. Wenn ich richtig gezählt habe, sind das jeweils  fünf Athleten.

<link termine top-events team-em-braunschweig _blank>Die Team-EM Kompakt

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